Wir leben in spannenden Zeiten. Die 70 Jahre lang stabile Nachkriegsordnung der Welt ist spätestens seit dem Beginn des Ukrainekriegs passé. Mit Schweden und Finnland suchen zwei neutrale Anrainerstaaten Schutz vor Russland in der Nato. Gleichzeitig steht das Bündnis auf dem Prüfstand Auf dem Prüfstand ist auch der Staat, der in immer kürzeren Zyklen Krisen und ihre teilweise absurden Auswirkungen bewältigen muss. Da müssen Unternehmen, die händeringend Personal suchen, bei vollen Auftragsbüchern Kurzarbeit oder gar Insolvenz anmelden, weil sie wegen einer Pandemie kein oder nur völlig überteuertes Material bekommen. Zwei Jahre später haben die Überlebenden leere Auftragsbücher, weil kaum noch gebaut wird – und müssen Fachkräfte entlassen.
Die Zeiten sind auch spannend im Hinblick auf das sich ändernde Staatsverständnis. Wie viel oder wenig Staat darf es denn sein? Und wie stark soll oder muss der Staat in die Märkte eingreifen? In den 1990er Jahren wurden so gut wie alle Staatsbetriebe – und damit auch viele Staatsaufgaben – privatisiert: Aus der Deutschen Bundespost wurden Telekom, Post AG und Postbank, aus der Bundesbahn die Deutsche Bahn AG, aus den Eisenbahner-Wohnungen eine Verschiebemasse.
Einige Privatisierungen, in unserem Beispiel Post und Telekom, haben alles in allem ganz gut funktioniert. Andere, wie bei der Bahn oder vielen Krankenhäusern, gingen eher nach hinten los. Die Folge ist, dass unsere hochmobile und möglichst autofreie Gesellschaft auf einen öffentlichen Personennahverkehr angewiesen ist, der noch nie so unzuverlässig war wie heute. Das nennt man wohl aus wirtschaftlichen Gründen kaputtgespart. Was die abnehmende Dichte an medizinischen Profitcentern, also Krankenhäusern, vor allem im ländlichen Raum für akute Notfallpatienten bedeutet, kann sich auch jeder selbst ausrechnen.
Wohnen als Teil der Daseinsfürsorge?
Das bringt uns zum schönen altmodischen Begriff der Daseinsvorsorge, auch Daseinsfürsorge genannt. Der Begriff umfasst die staatliche Aufgabe, alle Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die für ein menschliches Dasein als notwendig erachtet werden, also die Grundversorgung. Der recht unscharfe Begriff Daseinsvorsorge ist in Deutschland ein verwaltungsrechtlicher Begriff, der auch in Politik und Sozialwissenschaftlichen viel diskutiert wird. Zur Daseinsfürsorge zählt die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Schwimmbäder, Feuerwehr usw.
Wer dazu neigt, den Staat in erster Linie als Kümmerer für die Gesellschaft zu sehen, räumt der Daseinsfürsorge eine besondere und wichtige Rolle ein. Liberale Politiker dagegen halten staatliches Handeln in diesen Bereichen für ineffizient und lehnen es daher ab. Viele Betätigungen der Daseinsvorsorge, die früher von Staats- oder Kommunalmonopolen wahrgenommene wurden, müssen heute mit privaten Anbietern konkurrieren oder wurden komplett privatisiert. Staatliche Daseinsvorsorge kann jedoch auch privatwirtschaftlich organisiert werden. In großer Analogie zum starken Staat im Ordnungssystem der Sozialen Marktwirtschaft beschränkt sich der Gewährleistungsstaat auf das Setzen von Rahmenbedingungen und überlässt die Umsetzung der privaten Initiative.
Angesichts des zunehmenden Wohnungsmangels in Deutschland steigt die Zahl der Menschen, die ein staatliches regulatives Eingreifen in den Markt fordern. Der Druck auf Bund und Länder ist derart stark geworden, dass immer mehr in den Merkt eingegriffen wird. Manchmal, wie im Fall Berlins, geht dies mit sozialistischen Enteignungsträumereien und nutzlosen Mietendeckeln einher, meist jedoch mit viel Förderungen und neuerdings auch Erleichterungen im Baurecht.
Radio Eriwan sagt: im Prinzip ja!
Das führt uns zu der Frage, ob das Wohnen Teil der Daseinfürsorge ist. Gibt es also ein verbürgtes Recht auf Wohnen, wie es Sozialverbände und linke Gruppen schon lange fordern? Radio Eriwan sagt: im Prinzip ja! Das Recht auf Wohnen lässt sich als Teil der Regelung zu einem angemessenen Lebensstandard im UN-Sozialpakt2 ableiten. In Artikel 11 Absatz 1 heißt es: „(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten.“ Zu den Vertragsstaaten gehört auch Deutschland.
Die Interpretation der Rechte erfolgt durch den UN-Ausschuss für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, der zur Überprüfung der Umsetzung des Sozialpaktes eingesetzt wurde. Die Angemessenheit des Wohnraums ist in allen Staaten unterschiedlich, aber es gibt Vorgaben, die ein Vertragsstaat erfüllen muss: Bezahlbarer Wohnraum muss verfügbar sein, hierfür muss der Staat politische Programme und konkrete Maßnahmen so vorhalten, dass Unterkünfte diskriminierungsfrei für alle Menschen in seinem Staatsgebiet zugänglich sind. Der Schutz der Wohnung muss allen Menschen rechtlich und faktisch zustehen. Die Qualität der Wohnung bemisst sich daran, ob sie ausreichend vor Hitze, Kälte und Gesundheitsschäden schützt.
In die politische Debatte um das Recht auf Wohnen hat sich längst auch ein wirtschaftlicher Faktor gemischt. Für viele Kommunen ist Wohnraum zum Standort-Faktor geworden. Denn was nützt es einem Unternehmen, wenn es zwar Fachkräfte für sich gewinnen kann, am Ort aber keine Wohnungen verfügbar sind? Dieses Argument immerhin könnte Liberale dazu bewegen, Wohnen zu einem Teil der Daseinsfürsorge zu zählen. Denn offenbar regelt der Markt allein Angebot und Nachfrage nicht. Immerhin hatte man es fast zweieinhalb Jahrzehnte lang versucht. Von 1998 bis 2021 war der politische Stellenwert des Wohnungsbaus so gering, dass es noch nicht einmal ein eigenständiges Bauministerium gab.
„Perfect Storm“ im Wohnungsbau
Und weil der Wohnbau-Schuh immer heftiger drückt, nehmen die Maßnahmen in einem Ausmaß zu, wie es vor Jahren noch niemand für möglich gehalten hätte. Der 14-Punkte-Plan der Koalition wird – wenn er denn so umgesetzt wird – der größte und gravierendste Eingriff in das Bau- und Planungsrecht sein, den Nachkriegsdeutschland zu bieten hat. Und das ist auch nötig, denn die Rahmenbedingungen könnten schlechter nicht sein: Rezession, hohe Zinsen, steigende Inflation, explodierende Materialpreise und versagende Lieferketten einerseits. Überreguliertes Baurecht, teure Anforderungen, energetische Goldrandlösungen, gepaart mit Kommunikationsdesastern wie zuletzt bei der GEG-Novelle haben das geschaffen, was im englischen Sprachraum „perfect Storm“ genannt wird – die zeitgleiche Akkumulation von sich maximal negativ auswirkenden Faktoren. Der 14-Punkte-Plan hat das Potenzial, eine Wende in der Wohnungsbau-Misere herbeizuführen, auch wenn einige Erleichterungen, wie die degressive AfA, das Aussetzen des Neubaustandards EH 40 oder die Genehmigungsfriktion auf drei Monate bei den Baubehörden, erstmal nur temporär sind. Vor allem die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit ist ein starkes Signal dafür, dass die Bundesregierung das Wohnen wieder als Teil der Daseinsfürsorge begreift. Und das ist auch gut so.
Jörg Bleyhl