Wer über Wohnungsmangel in urbanen Räumen spricht, muss auch über Nachverdichtung sprechen. Das ist zwar nicht so sexy wie ein Neubau und stößt manchem Kommunalpolitiker bitter auf, ist aber schlicht notwendig. Oft sorgen Aufstocken, Anbauen und das Schließen von Baulücken für Unmut in der Stadtgesellschaft, weil es mit Einbußen für die Nachbarn einhergeht: Baulärm, weniger Licht, weniger Frischluftschneise, weniger Grün, höhere Parkraumbelastung und so weiter.
Der Wohnungsmangel in den begehrten Ballungsräumen hat viele Gründe. Zum einen wollen viele Menschen dort leben, wo es Jobs, Infrastruktur und städtisches Leben gibt. Zum anderen verändert sich unsere Gesellschaft. Machten Einpersonenhaushalte 1950 noch knapp ein Fünftel aller Haushalte in der Bundesrepublik aus, so hat sich ihr Anteil in gut sieben Jahrzehnten mehr als verdoppelt. 2022 waren es laut Statistischem Bundesamt (Destatis) knapp 41 Prozent. In dieser Zeit ist die Zahl der Haushalte von 16,7 Millionen auf 40,9 Millionen Haushalte gestiegen. Damit liegt Deutschland deutlich über dem EU-Durchschnitt. Nur in Finnland, Litauen, Schweden, Dänemark und Estland wohnten im EU-Vergleich noch mehr Menschen allein. In der Slowakei, Zypern, Irland, Polen, Portugal und Kroatien waren es weniger als halb so viel wie hierzulande. Zwischen 2013 und 2023 stieg der Anteil der alleinlebenden Personen in fast allen Ländern der EU an.
In deutschen Großstädten dominieren Einpersonenhaushalte längst. Mit knapp 56 Prozent stellen sie in Berlin den größten Anteil. In den angesagten Innenstadtvierteln wie Friedrichshain-Kreuzberg leben sogar fast 63 Prozent der Menschen allein. Damit steigt auch der durchschnittliche Raumbedarf pro Person. Die Wohnfläche pro Kopf hat in Deutschland zwischen 2011 und 2021 von 46,1 auf 47,4 Quadratmeter weiter zugenommen.
Bis zu 50 Quadratmeter pro Person gelten in Deutschland als angemessen, 60 für zwei und 75 Quadratmeter für drei Personen. Eine Wohnung gilt als überbelegt, wenn das Wohnzimmer auch Schlafraum ist, sich drei oder mehr Kinder ein Kinderzimmer teilen müssen oder ein Bruder und eine Schwester im Teenageralter ein gemeinsames Zimmer haben. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2019 fast acht Prozent der Bevölkerung in einer überbelegten Wohnung. Das sind 6,4 Millionen Menschen, Tendenz steigend.
Wie viel Platz braucht der Mensch?
Der Platzbedarf eines Menschen ist aber nicht nur einkommens-, sondern auch kultur- und klimaabhängig. In Tokio – mit mehr als 15.000 Einwohnern pro Quadratkilometer eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt – ist eine gewöhnliche Stadtwohnung oft nicht größer als 16 oder 17 Quadratmeter. Wer sich das nicht leisten kann, muss in ein Wohnheimzimmer ziehen oder in eine Zelle, die nur aus einer Matratze besteht. In wärmeren Ländern, wo sowieso mehr draußen gelebt wird, teilen sich teilweise komplette Familien einen einzigen Raum. Die Vereinten Nationen sehen eine Wohnung als überbelegt an, wenn sich mehr als drei Personen einen Raum teilen. Demnach leben weltweit 19 Prozent oder 400 Millionen Stadtbewohner in überbelegten Wohnungen.
Im Zeichen der allgemeinen Wohnbaumisere hat die Bundesregierung die Zeichen der Zeit erkannt und erleichtert das Nachverdichten: Genehmigungsfreiheit für Aufstockungen, Bauantragsfriktion, der mögliche Verzicht auf eine Stellplatzpflicht und üppige Förderungen sollen den nötigen Schub geben. In wachsenden Städten ist es wichtig, den vorhandenen Raum optimal zu nutzen. Die Nachverdichtung verdichtet bestehende Gebiete, indem neue Gebäude oder Einheiten hinzugefügt werden. Dies kann helfen, die Zersiedelung zu verlangsamen und die Infrastruktur effizienter zu nutzen. In schrumpfenden Kommunen bietet eine Nachverdichtung auch die Chance, das städtebauliche Gefüge kompakter zu gestalten und aufzuwerten. Die Nachverdichtung ist häufig ein Gegenkonzept zu neuen Baugebieten und zur weiteren Zersiedelung am Stadtrand. Dabei ist das Konzept nicht neu. In mittelalterlichen und antiken Metropolen wurde teilweise so stark nachverdichtet, dass sogar Brücken bebaut wurden.
Zukunftsthemen in der Projektentwicklung
Eine effiziente Nutzung von Flächen und damit die Schonung von unbebautem Boden sind Zukunftsthemen in der Projektentwicklung. Nachverdichtung bedeutet eine erhöhte Wohnraumkapazität ohne Expansion in den Stadtrand. Die Stärkung der urbanen Gemeinschaften und sozialen Strukturen kann sich positiv auf Quartiere auswirken und birgt wirtschaftliche Vorteile durch das optimierte Nutzen von Infrastrukturen, denn Straßen, Strom-, Wasser-, Abwasser- und Telefonleitungen sind bereits vorhanden. Dadurch sind die Erschließungs- und Folgekosten im Vergleich zu Neubauvorhaben auf neu ausgewiesenem Bauland niedriger. Eigentümer können durch die Nachverdichtung wirtschaftlich zusätzliche Nutzflächen in ihren Bestandsimmobilien schaffen.
Dafür stellt die Nachverdichtung deutliche höhere planerische Anforderungen. Oft braucht es architektonische, kreative und innovative städtebauliche Konzepte. Das gilt insbesondere für Grundstücke, die aufgrund ihrer Größe oder eines ungünstigen Zuschnitts schwer zu nutzen sind. Eine weitere Möglichkeit der Nachverdichtung ist das Andocken an eine bestehende Immobilie. Statt neue Wohngebiete auszuweisen, bieten Baulücken einen idealen Standort für umweltfreundliche städtebauliche Nachverdichtung. Die Geschossaufstockung wiederum bietet Potenzial für neuen Wohnraum und schont dabei die Umwelt durch Raumgewinn ohne Flächenverlust. Zusatzkosten für Baugrund und Infrastrukturmaßnahmen, wie Anschluss an das Kanal- und Versorgungsnetz, fallen nicht an. Großes Potenzial für Geschossaufstockungen bieten neben Mehrfamilienhäusern vor allem Nichtwohngebäude wie Parkhäuser oder Einkaufszentren, insbesondere mit Flachdach, vorausgesetzt Statik und Baurecht geben es her.
Es gibt aber auch Herausforderungen bei der Nachverdichtung. Bestehende, eingespielte soziale und kulturelle Strukturen müssen berücksichtigt werden. Häufig löst die Nachverdichtung Streit über städtebauliche Qualität, Lebensqualität und den Erhalt historischer Gebäude aus. Deshalb muss Nachverdichtung sorgfältig geplant und kommuniziert werden, damit die neuen Strukturen harmonisch in die Wohngebiete integriert werden können. Die Baukosten für die Nachverdichtung können vergleichsweise hoch sein, weil auf engstem Raum gebaut wird und es wenig Raum für Material und zum Rangieren gibt. Die Beteiligung der Anwohner an Planungsprozessen ist entscheidend, um Akzeptanz und Unterstützung für die Maßnahmen zu erzeugen. Angesichts des Klimawandels, der Digitalisierung und anderer globaler Trends muss die Stadtentwicklung zukunftsorientiert sein. Gebraucht werden nachhaltige und resilientere Städte, die den Bedürfnissen der kommenden Generationen gerecht werden.
Revitalisierung: Nachverdichtung im Großen
Die Revitalisierung von Immobilien ist noch komplexer, bietet jedoch den Kommunen noch mehr Möglichkeiten. In allen größeren Städten gibt es verfallene Gebiete mit verlassenen Produktionsstätten, verwahrlosten Firmengeländen, leeren Gewerbeimmobilien, leer stehenden Kaufhäusern in Innenstadtlage – Benko lässt grüßen –, niedriger Wohnqualität und vielen sozialen Problemen. – Seit Ende der 1990er Jahre haben viele Kommunen Strategien zur Wiederbelebung solcher Gebiete entwickelt und Konversions flächen revitalisiert. Ein Abriss ist aus Nachhaltigkeitsgründen die letzte Möglichkeit der Neunutzung. Eine Revitalisierung bedeutet aber auch eine Herausforderung mit veränderten Grundrissstrukturen, energetischen Maßnahmen und vor allem zukunftsfähigen Nutzungsmöglichkeiten. Das Thema wird in Zukunft eine größere Rolle spielen und die Projektentwicklung vor große Herausforderungen stellen. Das lässt sich bereits daran ablesen, dass Revitalisierung und Nachverdichtung zum festen Bestandteil von Aus- und Weiterbildungen in der Immobilien- und Wohnungswirtschaft werden. Jüngst hat die EBZ Business School das Thema im Masterstudiengang Projektentwicklung verankert.
Angesichts des Wohnungsmangels und der noch immer hohen Attraktivität der Städte müssen wir uns von überkommenen Traditionen trennen. Wie zeitgemäß ist es, die Höhe des Kirchturms zum Maß aller (Hochbau-)Dinge zu machen? Wir brauchen schnell mehr Wohnraum und kleinere Wohnungsgrößen in einem Umfeld, das nur wenig Bauland zu bieten hat. Deshalb brauchen wir neue Konzepte, die den Raum optimal ausnutzen, der zur Verfügung steht. Wer in der Stadt leben will, kommt also nicht darum herum, dass man dort zunehmend in die Höhe baut und sich näher auf die Pelle rückt.
Jörg Bleyhl