Was hören wir dieser Tage nicht alles über das bevorstehende Stromageddon? Die Zeitungen mit den großen Lettern titelten Schlagzeilen wie „Immer mehr Strom aus dem Ausland: Die Frust-Bilanz des AKW-Aus“. Politiker greifen den Tenor auf und malen das Bild eines deindustrialisierten und wirtschaftlich abgehängten Deutschland. Gleichzeitig wiegeln die Befürworter der Energiewende ab und sagen: „alles gar nicht so schlimm!“ Aber was stimmt denn nun?
Die konservative Presse sieht den Standort Deutschland unter Druck wegen der teuren Strompreise. Das schaffe mehr Abhängigkeiten und emittiere mehr CO2 als nötig. Letztlich werde durch den Umbau auf Erneuerbare die eigene und sichere Versorgung vollständig sabotiert. Statt heimischem Strom aus Kernenergie importiere man nun Atomstrom aus dem Ausland. Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssten unsere europäischen Nachbarn decken. Deutschland sei nicht mehr in der Lage, den nationalen Strombedarf mit heimisch erzeugtem Strom zu decken. Das klingt nach einer düsteren Dystopie. Und auch ich kann mich von solchen Gedanken nicht ganz frei machen. Aber das ist eher ein Gefühl als fundiert. Schauen wir uns also die Fakten an.
Das Boulevardblatt Bild errechnet eine imaginäre Strom-Import-Quote auf Basis der Anzahl der Tage, an denen Strom importiert wurde. Verglichen wird wegen des Atomausstiegs der Zeitraum Januar bis 16. April 2023 mit dem Zeitraum 16. April 2023 bis 12. Juni 2023. Demnach soll diese Strom-Import-Quote von 22 Prozent auf 82 Prozent angestiegen sein. Als Erstes fällt auf, dass der Vergleich zwischen den verschiedenen Jahreszeiten stattfindet. Die energiewirtschaftlichen Realitäten werden dabei vollständig außer Acht gelassen werden. Die bloße Anzahl der Tage, an denen Deutschland Strom importiert hat, liefert keine aussagekräftigen Informationen. Die Behauptung, dass der Stromimport notwendig war, ist erstmal nur eine Behauptung. Durch Fakten kann sie nicht gestützt werden.
Äpfel, Birnen und Atom-Aus
Tatsächlich zeigt eine nähere Betrachtung des Monats April, dass Deutschland schlichtweg an jedem Tag Strom importiert hat, also auch vor dem Atom-Aus. Die errechnete Strom-Import-Quote spielt in diesem Zusammenhang also keine Rolle. Viele mutmaßten auch, dass sich die CO2-Emissionen der deutschen Stromerzeugung seit dem Atomausstieg erhöhen werden. Wenn man sich die Statistik ansieht, ist das Gegenteil der Fall. Die CO2-Emissionen sind gesunken. In den Monaten nach dem Atomausstieg, im Mai 2023 und Juni 2023, wurden äußerst niedrige Werte von 331 beziehungsweise 355 Gramm pro Kilowattstunde erzielt. Der Tageswert vom 1. Juli 2023 mit 194 Gramm dürfte als bester Wert in der Geschichte der deutschen Stromerzeugung gelten. Aber wie kann das sein? Schließlich ist doch die klimatechnisch saubere Atomkraft endgültig aus dem deutschen Energierennen ausgestiegen. Hier sieht man, dass es eben alles doch nicht so einfach ist. Für den guten Wert waren viele Faktoren verantwortlich. Vor allem aber waren es günstige Wetterbedingungen für erneuerbare Energien: viel Wind, viel Sonnenschein und eine reduzierte Kohleverstromung durch Importe.
Warum importieren wir eigentlich Strom?
Deutschland hat schon immer Strom importiert und exportiert. Der europäische Stromhandel ist ein freier und heterogener Markt, in dem die Ware Strom gekauft und verkauft wird. Deutschland importiert beispielsweise Strom aus Dänemark und Norwegen und exportiert gleichzeitig Strom nach Tschechien und Frankreich. Doch das Bild in den Medien ist meist ein anderes. Seit 2003 war Deutschland Jahr für Jahr ein Nettoexporteur, was bedeutet, dass mehr Strom exportiert als importiert wurde. Dies gilt auch für das Jahr 2023 insgesamt, jedoch überwiegt der Import seit April.
Allerdings stellt sich die Frage, wie gut die deutsche Stromwirtschaft für die Zukunft gerüstet ist. Mit Blick auf die Elektromobilität und das Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035 wird der Anteil von Elektroautos voraussichtlich stark steigen. Im Dezember 2022 wurden erstmals mehr Elektroautos als Benziner in Deutschland zugelassen. Doch das ist auf saisonale Einflüsse zurückzuführen. Gegen Ende des Jahres steigt der Anteil an Elektroautos traditionell an, weil die Autohersteller Umweltauflagen für ihre Flottenabsätze erfüllen müssen.
Kohle ersetzen durch Erdgas?
Branchenkenner gehen davon aus, dass die Kohleverstromung im Jahr 2030 endet. Das Problem dabei ist, dass bei diesem früheren Kohleausstieg rund 16 Gigawatt fehlen. Das ist die typische Leistung von 16 Kernkraftwerken. Das kann nur kompensiert werden, wenn das Ausbautempo der erneuerbaren Energien deutlich erhöht wird. Zwar kann man durch den Verzicht auf Stromexporte ins Ausland den Bedarf an inländischer Stromerzeugung um etwa 10 Prozent verringern. Allerdings brauchen wir viele neue Gaskraftwerke, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Aufgrund des insgesamt steigenden Strombedarfs gehen Experten von einem Bedarf von 20 bis 25 Gigawatt aus. Diese Kraftwerke werden langfristig betrieben. Sie sind die stille Reserve für wind- und sonnenarme Zeiten. Langfristig sollen diese Kraftwerke mit Wasserstoff statt Erdgas betrieben werden. Aber wer baut teure Kraftwerke, wenn sie kaum laufen? Hier muss der Staat ordentliche Anreize schaffen.
Bisher wird die Energieversorgung durch die Bereitstellung von Netzreserven, Kapazitätsreserven und Kraftwerken in Bereitschaft sichergestellt. Das kostet Milliarden. In sofern wird sich nichts ändern. Kraftwerke in Bereitschaft, wie beispielsweise Steinkohle-Kraftwerke, werden zwar nicht aktiv betrieben, stehen jedoch als Backup-Lösung zur Verfügung, falls Sonne und Wind nicht ausreichend Strom liefern. Hier geht Versorgungssicherheit vor CO2-Ausstoß.
Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) mahnt: „Der Erfolg der Energiewende hängt entscheidend davon ab, die kontinuierliche Gewährleistung der Energieversorgung sicherzustellen.“ Hierfür seien nicht nur Investitionen in Gaskraftwerke vonnöten, sondern vor allem der massiv ausgedehnte Ausbau erneuerbarer Energien im großen Stil.
Bis hierher lese ich aus den seriösen Veröffentlichungen, die sich eingehend mit dem Thema befasst haben, heraus: Es gibt viel zu tun, aber es ist machbar – und verschlingt enorm viel Geld.
Wo genau wir stehen und welche konkreten Maßnahmen erforderlich sind, um die Versorgungssicherheit nach der Abschaltung von Kohlekraftwerken zu gewährleisten, werden wir bald wissen. In Kürze wird die Bundesnetzagentur den Monitoringbericht zur Versorgungssicherheit vorlegen. Dieser Bericht verspricht besonders interessant zu sein, weil er die Auswirkungen verschärfter Klimaziele untersucht. Der analysierte Zeitraum erstreckt sich von 2022 bis 2031. Das ist genau der Zeitraum, in dem auch die Kohleverstromung voraussichtlich enden wird. Ich persönlich bilde mir meine Meinung erst nach dieser Lektüre. Bis dahin kommt mein Strom einfach aus der Steckdose.
Oliver Mertens