Ist die Wirtschaft noch zu retten? Einige Wirtschaftsforscher zeichnen ein düsteres Bild. „Die Deindustrialisierung Deutschlands ist in vollem Gange“. Das sagt Harald Müller, Geschäftsführer der Bonner Wirtschafts-Akademie.
Die Verunsicherung in weiten Teilen der Wirtschaft sei seit letztem Jahr derart hoch, dass Produktionsverlagerungen ins Ausland längst in großem Stil vorbereitet und teilweise schon durchgeführt werden, weiß der BWA-Chef aus Gesprächen mit vielen Vorständen, Geschäftsführern und Betriebsräten aus dem Mittelstand und der Konzernwelt. Es gehe nicht mehr um die Frage ob, sondern nur noch um die Fragen wie und wie schnell.
Als Ursachen für diese Entwicklung macht der BWA-Chef „fundamental falsche Weichenstellungen in der Energiepolitik“ aus. Weite Teile der Wirtschaft hätten das Scheitern der sogenannten Energiewende vorausgesehen und längst Maßnahmen ergriffen, um sich davor zu schützen. Die Abwanderung sei nur die Ultima Ratio einer Entwicklung, die schon lange absehbar war. Der Chef der Bonner Wirtschafts-Akademie sieht ganze Wirtschaftszweige ins Ausland abwandern. Dazu zählt er die Chemische Industrie, die Metallverarbeitende Industrie und die Automobilproduktion inklusive der jeweiligen Zulieferernetze.
Müller hat die Erfahrung gemacht, dass viele chemische Fertigungsanlagen nach der regelmäßigen Revision gar nicht mehr in Betrieb genommen werden. Es sei wirtschaftlicher, die Anlagen stillstehen zu lassen, als sie mit völlig überhöhten Energiekosten zu betreiben. „Die Politik kennt diese Zusammenhänge meist gar nicht, sondern feiert sogar noch den Rückgang beim Verbrauch fossiler Energieträger, ohne zu wissen, dass stillgelegte Produktion die Ursache dafür ist“ beklagt er. Daher falle es oft gar nicht weiter auf, wenn die Anlagen hierzulande abgebaut werden und im Ausland wieder in Betrieb gehen. Nur die Belegschaft merke, was los ist, wenn Kündigungen ins Haus stünden.
Gleichzeitig investieren ausländische Unternehmen so wenig Geld in die hiesige Wirtschaft wie seit zehn Jahren nicht. Weil auch deutsche Firmen aufs Ausland setzen, ist das Defizit immens. Zu diesem Ergebnis kommt eine IW-Studie und sieht im Ergebnis die Deindustrialisierung voranschreiten. Mit rund 22 Milliarden Euro investierten ausländische Unternehmen so wenig in der Bundesrepublik wie seit zehn Jahren nicht mehr, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) mitteilte. Zwar schwächte sich der Nettoabfluss von Direktinvestitionen auf 94 Milliarden Euro ab. Dennoch sei nur in den beiden Vorjahren 2021 (100 Milliarden Euro) und 2022 (125 Milliarden Euro) mehr Geld aus Deutschland abgeflossen. Der Wert gibt jeweils die Differenz zwischen Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland und ausländischer Unternehmen in Deutschland an.
„Die wiederholt hohen Netto-Abflüsse deuten darauf hin, dass es sich nicht um Ausnahmeerscheinungen, sondern um erste Symptome einer Deindustrialisierung handelt“, lautet das Fazit der Untersuchung. So habe die Erzeugung im produzierenden Gewerbe im Dezember 2023 deutlich unter den Werten von 2015 gelegen. „Die Politik macht es für Unternehmen alles andere als attraktiv, in Deutschland zu investieren“, sagte IW-Ökonom Christian Rusche. Dazu zähle, dass Förderprogramme wiederholt und quasi über Nacht gestoppt worden seien. Die Politik müsse die Investitionsbedingungen drastisch verbessern. „Bleiben die politischen Rahmenbedingungen so, wie sie sind, könnte sich die Deindustrialisierung stark beschleunigen“, warnte Rusche.
Harald Müller verweist darauf, dass die Reifenproduktion in Deutschland bereits in der Abwicklung sei. Dem Automobilsektor sagt er eine ähnliche Zukunft voraus. Er erklärt: „Die politische Einbahnstraße in Richtung E-Mobilität hat ausländischen Autoherstellern, vor allem aus China und den USA, den Weg nach Deutschland geebnet und zugleich zu schweren Verwerfungen bei den heimischen Herstellern geführt.“ Den Versuch, die Kaufentscheidungen der Verbraucher entlang „politischer Linien von Fördern und Verboten zu lenken, statt dies dem Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen“, stuft der BWA-Chef als gescheitert ein. Er stellte die Zusammenhänge dar: „Die Verunsicherung auf Kundenseite führt zur Kaufzurückhaltung und damit zu Unsicherheiten auf der Herstellerseite. Die Autohersteller haben ihre Planungsbasis verloren und wissen nicht mehr, welche Stückzahlen sie in welchen Schichten überhaupt noch produzieren sollen, um nicht auf den Wagen sitzen zu bleiben.“
Brückenstrompreis ist „regulatorische Irrfahrt“
Harald Müller verweist darauf, dass weite Teile der deutschen Wirtschaft bis zu dreimal mehr für Strom zahlen als ihre internationale Konkurrenz. „Die Politik musste handeln“, versteht der BWA-Chef, aber den Brückenstrompreis stuft er als „regulatorische Irrfahrt“ ein. Müller begründet: „Statt Investitionen in grüne Energien gezielt zu fördern, werden alle Energieformen mit der Gießkanne subventioniert. Besser wäre es gewesen, dem gewerkschaftlichen Vorschlag zu folgen, das Geld gezielt denjenigen Unternehmen zukommen zu lassen, die auf regenerative Energieformen umschwenken, um Mitnahmeeffekte zu reduzieren.“ Viele Firmen würden nämlich den Brückenstrompreis nutzen, um sich damit „die „Brücke ins Ausland“ finanzieren zu lassen. „Die Unternehmen nehmen mit, was sie hierzulande kriegen können, während sie die Verlagerung etwa in die USA vorantreiben“, weiß er.
Die sogenannte Wasserstoffstrategie der Bundesregierung erfährt in weiten Teilen der Wirtschaft eine Abfuhr, hat Akademie-Geschäftsführer Harald Müller festgestellt. „Die meisten Führungskräfte aus der Wirtschaft, mit denen ich spreche, stufen den Versuch einer Wasserstoff-basierten Energiewirtschaft als unrealistisch ein“, sagt er. Als die häufigsten Argumente hört er: „Wasserstoff hat ein dreimal so hohes Volumen wie Erdgas, lässt sich nur mit hohem Aufwand und daher mit hohen Kosten transportieren und die Explosionsgefahr ist viel zu hoch.“ Nach Müllers Einschätzung geht ein Großteil der Industriemanager inzwischen davon aus, dass sich die Wasserstoffstrategie als eine „ähnliche Luftnummer“ wie die grüne Energiewende entpuppen wird. Er sagt: „Öl und Gas sind zwar politisch nicht en vogue, aber erscheinen vielen Führungskräften als die derzeit einzigen verlässlichen Energieträger für eine industrielle Produktion im großen Stil.“
BWA-Geschäftsführer Harald Müller resümiert: „Das Versprechen der Bundesregierung, Deutschland auf bezahlbaren grünen Strom umzustellen, wird auf Jahre nicht erfüllbar sein. Die Unternehmen harren nicht aus, bis dies möglicherweise irgendwann einmal Realität wird, sondern wandern ab. Das gilt umso mehr, als alternative Industriestandorte insbesondere in den USA verlockende Angebote machen. Man muss bedenken, dass Energie in den USA ein beinahe vernachlässigbarer Kostenfaktor ist.“ Eine Wirtschaft, die auf ständiges Wachstum ausgelegt ist, braucht stabile und verlässliche Rahmenbedingungen. Die haben wir allerdings schon seit Jahren nicht mehr. Keine verlässlichen Förderkriterien, keine stabilen Energiepreise und immer mehr Bürokratie bescheren uns das böse D-Wort: Deindustrialisierung. Wenn die Politik nicht bald für stabile Verhältnisse sorgt, werden noch mehr Unternehmen abwandern. Dann sinkt die deutsche Wirtschaftskraft weiter.
Jörg Bleyhl