Themenserie: Schäden an der Fassade (Teil 1)
Wenn sich Sachverständige oder Handwerker mit Rissen auseinandersetzen müssen, stellen sich in der Regel drei grundsätzliche Fragen: Was ist die Ursache der Rissbildung? Wie können die Risse saniert werden? Stellen die Risse einen Mangel dar? Auch wenn es sich bei dem Mangel um einen Rechtsbegriff handelt, wird dieser in der Praxis auch für die technische und/oder optische Bewertung von Rissen herangezogen.
Bei der Beantwortung der eingangs genannten Fragen müssen mehrere Aspekte berücksichtigt werden. Risse können unterschiedlich breit und/oder tief sowie Ursache für weitere Schadensmechanismen sein. Sie können ab einer bestimmten Breite optisch wahrgenommen werden, allerdings auch nur temporär auftreten. Risse können eine mangelhafte Leistung des Handwerkers darstellen, aber auch durch mangelhaftes oder nicht aufeinander abgestimmtes Material verursacht werden. Sie können innerhalb oder außerhalb der Gewährleistung auftreten und bauart- oder baustofftypisch sein. Diese kurze Auflistung – die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt – zeigt, dass es nicht den Riss gibt und infolgedessen auch nicht die Bewertung geben kann. Zumal eine technische Bewertung ergeben kann, dass der Riss „nicht zu bemängeln“ ist, die juristische Bewertung aber eindeutig einen Mangel bestätigt.
Technische Bewertung
Grundlage einer jeden technischen Bewertung ist die Rissdiagnostik, bei der Rissbreite und -tiefe, Rissverteilung und -verlauf sowie der ein-, zwei- oder dreidimensionale Rissflankenversatz ermittelt wurden. Nach dieser Dimensionierung des Risses muss die Frage geklärt werden, ob zukünftig Bewegungen an den Rissflanken zu erwarten sind oder einfach ausgedrückt, ob ein Riss noch „arbeitet“? Dies entscheidet neben der technischen Bewertung des Risses ganz wesentlich über das Sanierungssystem, nämlich den Riss zu sanieren oder zu kaschieren.
Das Messen von Rissbreiten ergibt eigentlich nur einen Sinn, wenn man die gemessenen Werte (Ist-Zustand) mit den zulässigen Rissbreiten (Soll-Zustand) vergleicht. Dies ist relativ schwierig, da hierzu in den Normen und Regelwerken keine absoluten Werte zu finden sind. Werden Werte genannt, können diese nicht unkritisch für alle Bauteile und/oder Baustoffe übernommen werden. In der DIN V 18 550 (Putz) wird beispielsweise ausgeführt, dass Haarrisse in begrenztem Umfang nicht zu bemängeln sind. Als Haarrisse werden hierbei Risse mit einer Breite bis zu 0,2 Millimeter bezeichnet. Dieser Empfehlung folgt auch die DIN EN 13 914 Teil 1, in der ausgeführt wird, dass Haarrissbreiten bis 0,2 Millimeter bei wasserabweisenden und wasserhemmenden Putzen die Funktionstüchtigkeit nicht beeinträchtigen. In Anlehnung daran werden in der DIN EN 13 499 und DIN EN 13 500 (WDVS) für Putzbeschichtungen auf Mineralfaserdämmung 0,2 Millimeter und für Putzbeschichtungen auf Polystyroldämmung 0,3 Millimeter als zulässige Rissbreiten angegeben.
In der Praxis wird dies so ausgelegt, dass die Regelwerke eine Rissbildung von maximal 0,2 Millimeter „legalisieren“ und damit Risse nicht reklamiert werden können. Aus technischer Sicht stellt sich sofort die Frage, ob Risse größer 0,2 Millimeter sofort einen (technischen) Mangel darstellen? Zumal in der DIN V 18 550 noch ergänzt wird, dass breitere Risse keinen Mangel darstellen, wenn sie unter gebrauchsüblichen Bedingungen nicht sichtbar sind und der technische Wert des Putzes nicht beeinträchtigt wird. Und damit kann die spannende Frage gestellt werden: bei welchen Rissbreiten ist der technische Wert eines Putzes beeinträchtigt? Oder anders ausgedrückt: Wie lange ist die Funktionalität eines gerissenen Putzes gegeben?
Die wichtigste (technische) Funktion einer Putzbeschichtung ist der Witterungsschutz der Fassade. Durch einen kleinen Riss von beispielsweise nur 0,2 Millimeter können bei einem Schlagregen innerhalb von einer Stunde bis zu 20 Liter (!) Wasser in den Untergrund eindringen. Deshalb sollte sich die Bewertung eines Risses nicht nur an der Rissbreite und -tiefe orientieren, sondern auch gebäudespezifische Einflüsse mit einbeziehen. Hierzu gehören die Schlagregenbeanspruchung des Gebäudes sowie die überdurchschnittliche Beanspruchung durch Spritzwasser. Angaben hierzu befinden sich in der DIN 4108 Teil 3 (Beanspruchungsgruppen) und sollten in der Praxis, vor allem Ausschreibungen, mehr Anwendung finden.
Hinzu kommt, dass es nicht die Putzbeschichtung gibt. Neben Mineral-, Silikat-, Siliconharz- und Kunstharzputzen werden einige von ihnen noch mit einem ein- oder zweimaligen Anstrich versehen, der ebenfalls wieder aus unterschiedlichen Bindemitteln und damit Eigenschaften bestehen kann. Es ist deshalb genauso wenig zutreffend, einen wasserabweisenden Kunstharzputz als besonders kritisch (wegen Diffusion) oder besonders geeignet (wegen Elastizität) einzustufen. Das Gleiche gilt für die anderen Putzbeschichtungen, es ist immer eine Einzelfallbetrachtung und -bewertung. Denn schlussendlich spielt auch noch eine wesentliche Rolle, auf welchem Untergrund der Putz aufgebracht wird. Ein Wärmedämm- Verbundsystem muss komplett anders bewertet werden als ein Leichtputz auf hoch wärmedämmenden Mauerwerken, ein Sanierputz auf einem Mischmauerwerk oder Wärmedämmputz beim Gefach. Dies zeigt, dass eine generelle technische Bewertung von Rissen nicht möglich ist und dass neben der Rissbreite und -tiefe auch die bauphysikalischen Kenndaten der Putzbeschichtungen und ihrer Untergründe in die Bewertung einbezogen werden müssen. Selbst gleiche Rissbreiten und/oder -tiefen müssen aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung der Putze unterschiedlich bewertet werden. Gleiche Rissbreiten müssen nicht zwangsläufig die gleichen Risstiefen verursachen. Infolgedessen kann die Frage nach einem technischen Mangel nicht oder nur bedingt mit den Normen und Regelwerken genannten Rissbreiten oder -tiefen beantwortet werden.
Optische Bewertung
Die optische Bewertung von Rissen ist schwierig, da die Bewertung nicht auf objektiven Parametern wie zum Beispiel Messergebnissen beruht. Dadurch ist jede optische Bewertung subjektiv und damit angreifbar. So kann sich das optische Erscheinungsbild einer fertiggestellten Putzoberfläche für den Maler oder Stuckateur als normal oder üblich darstellen, während der Bauherr die gleiche Putzfläche als mangelhaft ablehnt. Häufig wird dann diskutiert, ob die aufgetretenen Risse noch im Toleranzbereich liegen, marktüblich und akzeptabel sind oder sich vielleicht sogar hätten vermeiden lassen. Hier geht es letztendlich um die Verhältnismäßigkeit der Risserkennung und -bewertung! Allerdings steht bei der optischen Bewertung nie das Aussehen der Risse allein im Mittelpunkt. Andere Faktoren können eine wesentliche Rolle spielen, hierzu gehören
- mikrobieller Befall und/oder Verschmutzungen,
- Farbtöne und Oberflächenstruktur,
- Lage und Wahrnehmung der gerissenen Fläche und
- zeitliche Relevanz des Auftretens.
In vielen Veröffentlichungen wird ausgeführt, dass Risse noch als akzeptabel gelten und nicht zu bemängeln sind, wenn sie in einer Breite bis 0,1 Millimeter beispielsweise auf geglätteten oder glatten Oberflächen oder sie in einer Breite bis 0,2 Millimeter bei einem Strukturputz mit einem Größtkorn größer 3 Millimeter auftreten. Diese Aussage kann nur bedingt übernommen werden. Wenn das Gebäude einem starken mikrobiellen Befall (zum Beispiel Algen, Pilze) ausgesetzt ist und in exponierter Lage (beispielsweise Niederschlagsmenge) steht, werden auch diese Risse nach einer relativ kurzen Zeit gut sichtbar sein und subjektiv größer erscheinen. Durch den mikrobiellen Befall wirken die Risse dunkler und an den Rissflanken breiter, als sie tatsächlich sind.
Bei Putzen mit hydrophilen Eigenschaften kommt hinzu, dass im Rissbereich die Wasseraufnahme noch größer ist. Durch Putzstrukturen, in denen sich Wasser nach Niederschlägen ansammeln kann (zum Beispiel horizontal verriebener Rillenputz oder klassischer Edelkratzputz), wird dieses Verhalten noch gefördert. Infolgedessen spielt bei der optischen Bewertung auch die Putzoberfläche und deren Struktur eine wichtige Rolle. Glatte Putzoberflächen sind hinsichtlich einer Rissbildung und deren Wahrnehmung viel anfälliger als raue und stark strukturierte Putzoberflächen, auf denen sich Risse kaum abzeichnen und unauffällig um das Strukturkorn herum verlaufen. Auch der Farbton der Putzoberfläche spielt eine Rolle. Bei weißen und hellen Oberflächen werden die Risse immer schneller und deutlich zu sehen sein als bei erdigen und dunklen Farbtönen.
Im Mittelpunkt der optischen Bewertung von Rissen stehen in der Regel zum einen die Verhältnismäßigkeit der Risserkennung und Bewertung und zum anderen die sogenannten gebrauchsüblichen Bedingungen. Beide Bewertungsziele werden ganz wesentlich davon beeinflusst,
- wo sich die Risse befinden,
- wie viele Risse aufgetreten sind,
- wie groß der Anteil der mit Rissen behafteten Fläche an der Gesamtfläche ist,
- ob die Risse sofort und gut erkennbar sind,
- ob die gerissene Fläche eine besondere gestalterische und/oder repräsentative Bedeutung hat,
- wann die Risse das erste Mal aufgetreten sind beziehungsweise
- ob die Risse gegebenenfalls nur temporär auftreten und wenn ja, unter welchen Umständen.
Einen ganz wesentlichen Einfluss auf die optische Bewertung haben unter anderem der Abstand des Betrachters, die Blickposition, die Lichtverhältnisse oder Beleuchtung, gegebenenfalls die Witterung sowie notwendige Hilfsmittel und/oder Messmethoden. In der Praxis ist die allgemeine Aussage üblich, dass Risse eine unwesentliche optische und/oder ästhetische Beeinträchtigung der Oberfläche darstellen, wenn sie aus zirka 3 Metern kaum oder nicht mehr sichtbar sind. Diese Aussage gilt als unverbindlich und stellt eine reine Empfehlung dar, weil die bereits erwähnten Einflüsse wie die Oberflächenstruktur, Farbgebung, Materialart, Lage und Beanspruchung der Oberfläche berücksichtigt werden müssen. Risse sollten immer nur aus der Position optisch bewertet werden, aus welcher sie auch erkennbar sind (gebrauchsübliche Verwendung/ Nutzung). Deshalb gilt es als unangemessen, dass ein Riss beispielsweise im Anschlussbereich Fassade/Dach durch Aufstellen eines Gerüsts sichtbar wird, während der Riss bei gebrauchsüblicher Betrachtung nicht erkennbar gewesen wäre. Als ebenso unangemessen gilt, dass benachbarte Dachflächen und/oder Grundstücke betreten oder eine Hebebühne, eine Leiter oder Hilfsmittel wie Fernglas oder Vergrößerungsglas (Lupe) benutzt werden müssen, um einen Riss ausfindig zu machen. Unverhältnismäßig ist auch, dass zum Sichtbarmachen eines Risses die Putzoberfläche mit Wasser benetzt werden muss. Dagegen gilt als grenzwertig, wenn der oder die Risse nur wenige Stunden am Tag (beispielsweise im Streiflicht) oder wenige Monate im Jahr (zum Beispiel in Folge jahreszeitlich bedingter Witterungsschwankungen) zu sehen sind.
Rechtliche Bewertung
Juristen sind in der rechtlichen Bewertung von Rissen deutlich unkreativer als die meisten Sachverständigen oder Handwerker. Sie orientieren sich am Paragraf 434 und Paragraf 633 BGB (Mangelbegriff) und damit der Frage, was vertraglich vereinbart wurde. Eine Abweichung von den Vereinbarungen kann auch dann mangelfrei sein, wenn sich das Werk für die vertraglich vorausgesetzte Verwendung oder übliche Verwendung eignet und so beschaffen ist, wie es bei anderen Werken gleicher Art üblich ist und wie es der Auftraggeber erwarten kann. Das Vorliegen eines Mangels (Riss) setzt nicht zwangsläufig einen Schaden voraus. Umgekehrt muss ein aufgetretener Schaden (Riss) nicht zwangsläufig einen Mangel darstellen. Gerade in Bezug auf technische Mängel (Wasseraufnahme) oder optische Mängel (mikrobiellen Befall) verwenden Juristen gerne Fragen wie „Können Sie ausschließen, dass …?“, um für ihren Mandanten die Antwort zu erzwingen, dass ein Restrisiko besteht und damit ein Mangel angenommen werden kann. Letztendlich gilt gerade bei Rissen das Motto: „Bezahlt wird mit Mängeln“ – und wenn der Riss noch so klein ist …
Frank Frössel Sachverständiger für Bautenschutz und Bausanierung sowie Schimmel- und Feuchteschäden Mehr Informationen zum Thema findet man im Fachbuch „Risse in Gebäuden“ von Frank Frössel, das im Baulion Verlag erschienen ist. |