Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es in Berlin wieder ein positives Bevölkerungswachstum. Hinzu kommt ein breiter Strom von zehntausenden von Neu-Berlinern jedes Jahr, aus dem Bundesgebiet, Europa und der ganzen Welt. Berlin wächst – und neue Wohnungen werden dringend benötigt. Das Land Berlin hat zwar kaum noch großen Einfluss auf den Immobilienmarkt als Bauherr, aber durch den massenhaften Verkauf öffentlicher Flächen befeuert Berlin die derzeitige Boom-Situation. Im Vergleich zur Platznot in München oder Hamburg verfügt Berlin kriegs- und teilungsbedingt noch über ungewöhnlich große (Bau-)Land-Reserven.
Die Miet- und Immobilienpreise galoppieren der Einkommensentwicklung in der deutschen Hauptstadt derzeit spürbar voraus. Speziell in der Innenstadt entstehen auf den letzten Brachen fast nur noch Luxuswohnungen. Berlin, mit einem großen Bestand an Jahrhundertwende-Bauten, gigantischen Anlagen des sozialen Wohnungsbaus in Ost und West und zuletzt zahlreichen Baugruppen-Projekten, wird 2016 überwiegend von großen privaten Neubauprojekten im Wohnungsbau geprägt.
Große Wohnanlagen für die Hauptstadt
Ein gutes Beispiel für den neuen Typus Wohnanlage in Berlin ist das Wohnquartier Metronom am Tempodrom. Die Kondor Wessels Holding hat für ihr Projekt urbanes Wohnen in Kreuzberg den gestalterisch konservativen Architekten Tobias Nöfer verpflichtet, der sich sich in seinem Entwurf für das neue Quartier an klassischen Vorbildern orientiert. Auf einer Brache in der Halleschen Straße werden 74 Eigentumswohnungen gebaut, die Hälfte war bereits vor Baubeginn verkauft. Es gehört zu einem größeren Entwicklungsgebiet, in dem zwölf Wohnhäuser entstehen und soll schon im Sommer 2017 fertiggestellt sein.
Ganz in der Nähe, in einem traditionell „schlechten“ Stadtviertel entlang der Kurfürstenstraße, baut das Büro Becher und Hatzijordanou (Berlin) auf einer Brache im südlichen Teil des Bezirks Tiergarten auf einem Grundstück von 4000 Quadratmetern eine neue Wohnanlage, die das bis dato als Rotlichtviertel bekannte Quartier aufwerten wird. Zwischen Genthiner- und Derfflingerstraße planen die beiden Architekten Wohnhäuser um offene Höfe herum mit Quergebäuden und Seitenflügel, die sich an den Bestand der Nachbarhäuser anpassen und damit eine typisch berlinerische Form annehmen. Die Architektur ist modern, mit großen Glasfassaden und tiefen Balkonen. Die Miet- und Eigentumswohnungen schlängeln sich quer durch den Block, wobei auch ein bestehendes Möbelhaus in die Planung mit einbezogen wird.
Projekte am ehemaligen Todesstreifen
Jahrzehntelang galt das Wohnen im Hochhaus als typisch für den sozialen Wonungsbau – aber das Living Levels genannte 60 Meter hohe Hochhaus in Berlin-Friedrichshain hat das grundlegend geändert: Das Luxus-Wohnhaus, ein 14-geschossiger Turm mit Eigentumswohnungen auf einer Fläche von 8700 Quadratmetern, entworfen von Nps Tchoban Voss (Hamburg, Berlin, Dresden), wurde auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen den beiden Stadthälften gebaut. Auch wenn Kritiker wegen des Teilabrisses eines erhaltenen Stücks Berliner Mauer in dem Bau ein Sinnbild für den Ausverkauf Berlins sahen, ist der Blick in einer vergleichsweise niedrig bebauten und flachen Stadt wie Berlin einmalig. Über die Spree hinweg haben die Bewohner Sicht über die ganze Silhouette der Stadt.
Modernes Erscheinungsbild
Von der Nähe zur Spree profitiert in Zukunft auch eine große neue Wohnanlage an der Köpenicker Straße. Der erste Preis im Wettbewerb ging an Love Architecture & Urbanism aus Graz. Es zeigt sich, dass die „Nachverdichtung im komplexen Wohnungsbau“ eine große Aufgabe in der Hauptstadt ist und bleiben wird. Love verbinden einen dreigeschossigen Flachbau mit einer Vielzahl möglicher Wohnungstypen mit einem zwölfgeschossigen Punkthochhaus an der Michaelkirchstraße.
Die Fassaden sollen modular aus Glasfaserbeton und Holzelementen gestaltet werden. Das Bauvorhaben wird 21,8 Millionen Euro kosten und schon Ende 2018 fertiggestellt sein.
Nachverdichtung in der Innenstadt
Grüntuch Ernst schlagen hingegen vier achtgeschossige Punkthäuser entlang der Köpenicker Straße vor, die von einem zwölfgeschossigen Hochhaus an der Michaelkirchstraße ergänzt werden. Alle Bauten werden über eine eingeschossige Schiene verbunden, in der sich Gewerbeflächen, Kita und Gartenhöfe befinden. Das Bauvorhaben soll 21,8 Millionen Euro kosten und schon Ende 2018 fertiggestellt sein.
Das Thema Nachverdichtung innerstädtischer Quartiere prägt auch die Pläne für die Fischerinsel im Zentrum Berlins: Hier möchte die Wohnungsbaugesellschaft Mitte auf einem landeseigenen Grundstück 200 Wohnungen errichten und hat sich für den Entwurf der Berliner DMSW Architekten entschieden. Vom historischen Nikolaiviertel wird man den 19-stöckigen Kopfbau an der Mühlendammbrücke in Zukunft deutlich sehen. Die Architekten wollen so den von Plattenbau-Hochhäusern geprägten Stadtraum komplettieren.
In Verbindung mit einer achtgeschossigen straßenbegleitenden Bebauung wird zwischen den Wohntürmen und der Bebauung an der Breiten Straße vermittelt. Die Erschließung der Ein- bis Fünfzimmerwohnungen erfolgt über sechs straßenseitige Zugänge. Zwei Senioren-Wohngemeinschaften, 96 Seniorenwohnungen, 21 förderfähige und 91 sonstige Wohnungen auf 16.500 Quadratmetern werden um 2000 Quadratmeter Gewerbefläche im Erdgeschoss ergänzt. Eine Schallschutz- Verglasung soll sich mit geschlossenen Flächen abwechseln. Schon 2016 soll mit den Arbeiten begonnen werden.
Wohnhochhäuser am Alexanderplatz
Drei Jahre später sollen die ersten Wohnhochhäuser am Alexanderplatz fertiggestellt sein: Ein russischer Bauunternehmer namens Monarch hat seine Entwürfe für den Alexander A. Tower präsentiert. Die Architekten vom Büro Ortner & Ortner (Wien/Berlin) verstehen den Bau als Pionier. Die vier vertikalen Module des Turms wirken trotz Rasterfassade mit durchlaufenden Linien wie aufeinandergestapelt. Die Höhe des Sockelgebäudes mit Einzelhandel orientiert sich am benachbarten Alexander- und Berolina-Haus von Peter Behrens. An der Ecke Gruner/Alexanderstraße sollen 42.000 Quadratmeter Nutzfläche entstehen. In den oberen Geschossen ist Wohnnutzung vorgesehen.
Für das projektierte Hochhausensemble hatte zuvor der Gehry-Turm für Furore gesorgt: Ein großer amerikanischer Investor will auf dem Baufeld D4 ein 150 Meter hohes Wohnhochhaus mit 300 Eigentumswohnungen errichten. Frank Gehry aus Santa Monica hat dafür eine Skulptur entworfen, die durch die Rotation von Kuben auf Punkte der Stadt Bezug nimmt. Die außergewöhnliche ausdrucksstarke Form hat einheitliche Fassaden aus mineralischem Material. Der Entwurf vermittelt nach Wunsch der Bauherren und Planer ein neues Niveau großstädtischen Wohnens in Berlin.
Breite Spanne an Neubauprojekten
Wie weit die Spanne von Neubauprojekten in Berlin derzeit reicht, verdeutlicht der Vergleich von zwei Projekten: das hippe Eckwerk und das gediegene Palais in der Friedrichstadt.
Das Architekturbüro Kleihues + Kleihues baut mit Graft am Spreeufer das Eckwerk. Auf dem Eckgrundstück an der Michaelbrücke sollen fünf bis zu zwölfgeschossige Hybride aus Wohn- und Forschungsgebäude als Türme aus einem Sockel wachsen. 35.000 Quadratmeter Geschossfläche werden auf dem 6000 Quadratmeter großen Areal untergebracht.
In der Mischung aus Technologiezentrum und inspirierendem Lebensraum mit bezahlbaren Mieten können 500 Studenten wohnen und mit Forschern und Unternehmern an verschiedenen Themen arbeiten, so die Vision der Bauherren. Die Gebäudehöhe liegt bei maximal 43 Metern, so viele Geschosse wie möglich sollen in Holzbauweise errichtet werden. Auf dem großen Gründach werden Gemüse angebaut und Fische gezüchtet.
Beim Stadtpalais an der Französischen Straße 56 bis 60 orientiert sich der Architekt David Chipperfield aus Großbritannien am ehemaligen Palais von Rahel Varnhagen. Die Artprojekt-Gruppe als Bauherrin will für das achtgeschossige Wohnhaus an die Tradition der Hôtel Particulier anknüpfen. Der zur Straße hin offene U-Grundriss hat kein Vorder- und Hinterhaus, sondern bietet guten Lichteinfall und Ausblicke für alle Einheiten. Der zentrale Ehrenhof wird als Garten gestaltet. In der 4 Meter hohen und mit zeitgenössischer Kunst geschmückten Lobby werden Bewohner und Besucher von einem mehrsprachigen Concierge begrüßt. Der Neubau wird 49 rund drei Meter hohe Appartements, drei Penthouses im sechsten und siebten Geschoss, mit Dachterrasse im achten Geschoss sowie zwei Ladengeschäfte beinhalten. Die Fassaden bestehen aus Sichtbeton und Putz. Die Wohnungen werden mit Parkett, Fenstern aus Eiche, Beschlägen aus Bronze sowie Travertin für Bäder ausgestattet.
Im Jahr 2016 werden in Berlin 15.000 neue Wohnungen errichtet. Aber allein 2015 wuchs die Bevölkerung Berlins um 80.000 Menschen. Für 2016 rechnen Experten mit ähnlichen Zuwächsen. 44 Prozent der Fläche Berlins sind Seen, Parks und Wälder. Wenn die Stadt diese Ressourcen erhalten will, muss sie dichter bauen. Um allen Einkommensschichten etwas zu bieten, fördert der Senat pro Jahr den Bau von 3000 Wohnungen. Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber noch im Jahr 2011 hat die Wohnungsbauförderung in Berlin bei null gelegen. Neue Zeiten verlangen nach neuen Antworten!
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[tab title=“Der Autor“]Ulf Meyer
Architektur-Journalist (Berlin)[/tab]
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