„Dit is Berlin!“ Die Kampagne der Berliner Morgenpost ist längst zum Meme für alles geworden, was in der Hauptstadt absurd schief läuft. Ende Juni habe ich den Abschlussbericht der Berliner Expertenkommission gelesen, die die Sinnhaftigkeit und Auswirkungen der „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ untersuchen sollte. Das Gremium aus 13 Experten unterschiedlicher Fachrichtungen unter dem Vorsitz von Herta Däubler-Gmelin empfiehlt bei drei Gegenstimmen die Enteignung und Verstaatlichung von Immobilienkonzernen im Stadtstaat. Normalerweise würde ich an der Stelle „dit is Berlin“ denken und zur Tagesordnung übergehen. Allerdings sind die Experten echte Experten auf ihren Gebieten. Sie sind keine ideologisierten Linken, die dem realexistierenden Sozialismus hinterhertrauern und die Welt ihrem Denken anpassen wollen. Ausschussvorsitzende Däubler-Gmelin gilt als Sozialdemokratin der Mitte und war im Kabinett Schröder immerhin Bundesjustizministerin.
Die vom Berliner Senat eingesetzte Kommission hat sich ein Jahr Zeit genommen, um die Enteignungsfrage aus allen Blickwinkeln zu betrachten. Ihre Mitglieder sprechen sich jetzt dafür aus, Wohnraum zu vergesellschaften. Sie sehen ein solches Vorgehen durch Artikel 15 des Grundgesetzes gedeckt. Danach gibt es grundsätzlich die Möglichkeit, Grund und Boden, Bodenschätze oder Produktionsmittel zu vergesellschaften. Wie eine solche Enteignung umgesetzt werden soll, darüber schweigt sich die Untersuchung jedoch vornehm aus. Vielleicht liegt das jedoch an der eher theoretischen Ausprägung das Gremiums. Zwar finden sich dort eine Bankvorständin und ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter wieder, ansonsten jedoch jede Menge Professoren und Professorinnen für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht, Europa- und Völkerrecht, Bürgerliches Recht und Finanzrecht.
„Dem Mietenwahnsinn ein Ende bereiten“
Hintergrund der Untersuchung ist ein Volksentscheid aus dem Jahr 2021, den eine Bürgerinitiative namens „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ initiiert hatte, um Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen in Berlin zu vergesellschaften und damit „dem Mietenwahnsinn ein Ende“ zu bereiten. SPD, Grüne und Linke, die Parteien des damaligen Senats, hatten sich nach langer Debatte darauf geeinigt, die Kommission einzusetzen.
Das Gremium zeigte sich uneins in der Frage, inwieweit das Ziel, den Anstieg der Mieten zu begrenzen, durch eine Vergesellschaftung überhaupt erreicht werden kann. Die Befürworter argumentieren, die anhaltende Verteuerung der Mieten in Berlin lasse sich dadurch bremsen, dass der Anteil der Wohnungen in öffentlicher Hand steige. Die Kritiker im Gremium verweisen allerdings darauf, dass durch eine Vergesellschaftung keine neuen Wohnungen entstünden. Sinnvoller sei es, durch zusätzlichen Neubau für ein größeres Angebot zu sorgen – und die Mietsteigerungen auf diese Weise zu bremsen
Milchmädchenrechnung aus dem Elfenbeinturm
Die Mehrheit der überwiegend mit Juristen besetzten Kommission rechnet ganz einfach: Durch die Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen werde genügend Wohnraum zusammenkommen, um den Bedarf der sozial Bedürftigen zu decken. Schließlich seien dann rund 855.000 Wohnungen, also mehr als die Hälfte des gesamten Berliner Wohnungsmarkts staatlich oder genossenschaftlich bewirtschaftetet. Spätestens an dieser Stelle hätte ich mir Betriebs- und Volkswirtschaftler in der Expertenkommission gewünscht. Dass man Juristen per se eine geringe Neigung zur Mathematik nachsagt, gehört zum Klischee des Berufs. Aber dass Professoren und Professorinnen rechnen wie das viel gescholtene Milchmädchen, lässt mich kopfschüttelnd zurück. Zumal hier eine große Chance für einen gesellschaftlichen Diskurs durch ein ideologisches „ich mach‘ mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt“ vertan wurde. Wenn die sozialistischen Rezepte von der Stange funktionierten, hätte es keine Wiedervereinigung gegeben. Ich hoffe, dass diese Idee den gleichen Weg nimmt, wie der Mietpreisdeckel. Frisch in Kraft, wurde es im April 2021 vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Doch in der Folge sind die Bauanträge für Wohnungen drastisch zurückgegangen. Sogar bereits genehmigte Bauprojekte wurden zurückgestellt, weil die Investoren kein Vertrauen mehr in den Berliner Senat hatten – und haben.
Am Ende bemisst sich der Wert jedes Guts an zwei Fragen: Wie hoch ist das Angebot und wie hoch ist die Nachfrage? Neuer Wohnraum wird nur dann gebaut, wenn die Rahmenbedingungen für Bauherren sicher sind und die Investitionen sich lohnen. Natürlich darf und muss man sich fragen, ob es sozial und volkswirtschaftlich sinnvoll ist, wenn Hedgefonds-Heuschrecken mit billig geliehenem Geld hunderttausende Wohnungen kaufen und in immer kleineren Tranchen weiterverkaufen, nachdem die Rücklagen geplündert wurden und Sozialklauseln über Bord gegangen sind.
Was nützt der Gesellschaft?
Wenn man über Wohnen als Menschenrecht redet, muss man über Daseinsvorsorge sprechen. Das ist für mich das eigentliche Thema hinter dem Diskurs. Seit den frühen 1990er Jahren hat sich der deutsche Staat Stück für Stück vom Konzept der Daseinsvorsorge verabschiedet: Die privatisierte Bahn muss jedes Jahr üppige Gewinne an den Bundeshaushalt abführen und ist streckenweise kaum noch in der Lage, einen geordneten Fahrgastbetrieb aufrechtzuerhalten. Krankenhäuser dienen nicht mehr der Bürgergesundheit, sondern müssen Profit Center sein. Und Wohnungsunternehmen mit sozialem Auftrag sind nicht mehr gemeinnützig. Dutzende Kommunen haben ihr infrastrukturelles Tafelsilber an internationale Investoren verkauft und mieten es teuer. Ist diese Entwicklung zum Wohle der Bürger? Daran habe ich erhebliche Zweifel.
Krisen zeigen Bedeutung der Daseinsvorsorge
Erst in Krisenzeiten zeigt sich die Bedeutung der Daseinsvorsorge. Dazu zählen funktionierende Krankenhäuser mit ausreichend Personal für schwer erkrankte Covid-Patienten genauso wie schnelles Breitband-Internet für die Arbeit im Homeoffice und eben auch ausreichend bezahlbarer Wohnraum in den Ballungszentren. Lange wurde die Daseinsvorsorge nur unter Kostenaspekten diskutiert. Staatliche oder kommunale Unternehmen galten als zu teuer und ineffizient. Aber spätestens seit der Pandemie und Energiekrise wird das Thema Resilienz zunehmend wichtig. Die Dinge müssen funktionieren. Und die Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf, das nicht 50 Prozent ihres Nettoeinkommens verschlingt.
Wer wissen will, wie sich die konsequente Privatisierung aller Bereiche der Daseinsvorsorge auswirken, der sollte sich Groß Britannien anschauen. Dort haben in den 1980er Jahren neokonservative Politiker wie Margaret Thatcher die öffentliche Daseinsvorsorge massiv beschnitten. Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung wurden ihr politisches Programm. Die Auswirkungen davon sieht man heute noch in der Infrastruktur: kaputtes Gesundheitssystem, kaputter Immobilienmarkt, kaputte Infrastruktur, zunehmende Armut und eine immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen arm und reich.
Der Markt regelt zwar viel, aber eben nicht alles zum Besten der Gesellschaft. Aber er liefert auch einen Antrieb, den eine Staatswirtschaft nicht bieten kann. Wie so oft ist die richtige Mischung gefragt. Um die herauszufinden, kann man sich fragen: Was nützt der Gesellschaft? Dass Unternehmen, für die tausende Wohnungen nur ein Spekulationsobjekt sind und die nichts zur Wertschöpfung beitragen, nichts Nützliches für die Gesellschaft beitragen, liegt wohl auf der Hand. Deshalb brauchen wir eine gute Mischung aus privaten und kommunalen Wohnungsunternehmen, aus freiem und sozial gebundenem Wohnraum. Vor allem aber – und das ist entscheidend – brauchen wir einen verlässlichen politischen Rahmen, der das regelt, was der Gesellschaft nützt und der Markt nicht kann. Früher nannte man das Soziale Marktwirtschaft. Es wird Zeit, dass wir uns wieder mehr damit beschäftigen.
Jörg Bleyhl