Von Dr. Barbara Hendricks |
Schon seit einigen Jahren wird Wohnraum vor allem für einkommensschwache Haushalte in angespannten Wohnungsmärkten immer knapper. Noch vor einem Jahrzehnt waren alle Experten davon ausgegangen, dass in Deutschland aufgrund der sinkenden Bevölkerungszahl kaum noch neue Wohnungen und kaum noch sozialer Wohnungsbau gebraucht würden. Doch die enorme Binnenwanderung vom Land in die Städte, aus strukturschwachen in wirtschaftlich starke Regionen, hat diese Prognosen über den Haufen geworfen.
Die vielen zu uns Geflüchteten haben den großen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum nicht ausgelöst, aber den Blick darauf gelenkt und das Problem noch verstärkt. Denn viele werden mittel- und langfristig bei uns bleiben. Entlang dieser Entwicklungen sind Themen wie Integration, Stadt- und Quartiersentwicklung sowie die Notwendigkeit für ein einfacheres und einheitliches Baurecht auf die Tagesordnung gekommen.
Alle Beteiligten haben inzwischen eine steile Lernkurve durchlaufen. Noch vor zwei Jahren stand die Prognose bei 250.000 Wohnungen, die jedes Jahr gebaut werden müssten. Heute gehen wir von mindestens 350.000 neuen Wohnungen aus. Standen am Beginn die Großstädte und Ballungsräume im Blick, schauen wir zunehmend auch in die kleineren und mittleren Orte. Vielerorts steigen die Mieten, sind Wohnungsmärkte angespannt. Die Bundesregierung geht das Problem offensiv und pragmatisch gemeinsam mit den Ländern an, in deren Zuständigkeit der Wohnungsbau hauptsächlich liegt.
Umfassende Arbeit
Das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen hat umfassende Arbeit geleistet, um diese große gesellschaftliche Herausforderung zu meistern. Hier agieren alle Beteiligten vertrauensvoll und praxisorientiert im Sinne des gemeinsamen Ziels: den Wohnungsneubau in Deutschland deutlich zu verstärken. Ich habe auf der Grundlage der Empfehlungen des Bündnisses ein Zehn-Punkte-Programm für eine Wohnungsbau-Offensive vorgestellt:
- Bauland bereitstellen und Grundstücke der öffentlichen Hand verbilligt und nach Konzeptqualität vergeben.
- Wohnsiedlungen nachverdichten, Brachflächen und Baulücken schließen.
- Soziale Wohnraumförderung und genossenschaftliches Wohnen stärken.
- Zielgenaue steuerliche Anreize für mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen.
- Bauordnungen harmonisieren – Aufwand reduzieren.
- Normen, Standards und gesetzliche Anforderungen im Bauwesen auf den Prüfstand stellen.
- Serielles Bauen für ansprechenden und günstigen Wohnraum forcieren.
- Stellplatzverordnungen flexibler ausgestalten.
- Energieeinsparungsgesetz, Energieeinsparverordnung und Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz strukturell neu konzipieren.
- Gemeinsam für mehr Akzeptanz von Neubauvorhaben werben.
Bund, Länder und Kommunen arbeiten daran, alle Maßnahmen zügig in die Praxis umzusetzen. Dazu habe ich ein Expertengremium zur Umsetzung der Wohnungsbau-Offensive eingesetzt. Diesem Gremium gehören Persönlichkeiten mit ausgewiesener Expertise in der Wohnungswirtschaft und -politik an. Zu seinen Aufgaben gehört insbesondere, die Fortschritte bei Bund, Ländern und Kommunen, aber auch die Aktivitäten der anderen Bündnispartner zu überprüfen. Auch Hemmnisse sowie Möglichkeiten zu deren Beseitigung sollen aufgezeigt werden.
Eine Menge bewegt
Wir haben seit Einrichtung des Bündnisses bereits eine Menge bewegt und Lösungen gefunden, die noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen wären. Die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ist noch besser und noch kooperativer geworden. Wir haben gemeinsam viel voran gebracht, etwa im Bauordnungsrecht, insbesondere mit Blick auf die dringend benötigten Erstaufnahmeeinrichtungen. Wir haben allerdings keine Zeit, uns auf dem Erreichten auszuruhen. Auch wenn einiges auf den Weg gebracht worden ist, müssen alle Beteiligten weiter konzentriert an der Bewältigung der Aufgaben arbeiten.
Einige Empfehlungen des Bündnisses sind mit Beschlüssen von Bund und Ländern zur Asyl- und Flüchtlingspolitik aufgegriffen und umgesetzt worden. Beschleunigte Verfahren für die Erstunterbringung waren nur der erste Schritt. Mit der Wohnbau-Offensive zielen wir viel weitergehend auf den regulären Wohnungsmarkt. Wir wollen mehr bezahlbaren Wohnraum für alle. Für die hier schon länger lebenden Menschen und für die neu zu uns gekommenen mit Bleibeperspektive.
Dem sozialen Wohnungsbau kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zu. Denn ohne angemessene Wohnungen zu bezahlbaren Preisen für breite Bevölkerungsschichten wird Integration nicht gelingen. Und Integration heißt in doppelter Perspektive: den zu uns Geflüchteten Chancen geben, sich zu integrieren, und den hier schon Lebenden die Möglichkeit geben, die neuen Nachbarn aufzunehmen.
Wir dürfen dabei die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. In den 60er- und 70er-Jahren haben wir im Städtebau vieles falsch gemacht, obwohl es gut gemeint war. Großsiedlungen außerhalb der Stadtzentren sollten der Gegenentwurf sein zu dunklen, feuchten Wohnungen mit Ofenheizung und Außentoilette, zu heruntergekommenen, baufälligen Stadtteilen. Kahlschlagsanierung in den Innenstädten, Hochhäuser am Stadtrand, räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten, ein großzügiges Straßennetz für den stetig wachsenden Autoverkehr, das alles galt im Westen wie im Osten, eigentlich überall in Europa, als Patentrezept für zeitgemäßes und auch bezahlbares Wohnen.
Soziale Brennpunkte
Was dabei herauskam, ist nicht immer ein Ruhmesblatt für Stadtplanung, Architektur und Gesellschaftspolitik gewesen. Die scheinbar so modernen Siedlungen mutierten sehr oft zu sozialen Brennpunkten und waren keineswegs nachhaltig. Umgekehrt öffneten die vernachlässigten Stadtteile in den Innenstädten der Bauspekulation Tür und Tor. Sie wurden später aber oft auch zu Keimzellen unerwarteter und positiver Entwicklungen, zu Experimentierfeldern für soziale Gegenentwürfe. Gerade weil der Wohnraum wenig komfortabel, dafür aber billig war, und auch, weil es lautstarke Proteste bis hin zu Hausbesetzungen gab, konnte hier in den Innenstädten eine Mischung entstehen, die für unsere Gesellschaft bis heute unschätzbar wichtig ist.
Berlin-Kreuzberg zum Beispiel zog Zuwanderer an, die man damals Gastarbeiter nannte, aber auch Studierende, Künstler und andere Engagierte. Ähnliches passierte auf der anderen Seite der Mauer, etwa in Berlin-Prenzlauer Berg, das heute eine weltweit begehrte Wohnlage ist. Ein Angebot an bezahlbarem Wohnraum war schon immer weit mehr als einfach nur Versorgung.
Lektion gelernt
Die Renaissance der Innenstädte, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, das gelebte Miteinander von Menschen unterschiedlicher Milieus, ist das Resultat von bürgerschaftlichem Engagement, übrigens gerade von denen, die nicht zu den Gutverdienern und Privilegierten gehören. Wir können anhand dieser Erfahrungen beweisen, dass wir die architektonische, städtebauliche und stadtplanerische Lektion gelernt haben. Wir wollen keine sozial homogenen, abgeschotteten und monofunktionalen Quartiere, weder „Problemkieze“ noch „gated communities“ (bewachte Wohnkomplexe). Wir haben vielmehr verstanden, wie wichtig eine ansprechende Gestaltung des Stadtraums ist. Und wir haben verstanden, dass im Neubau der Klimaschutz kein Merkmal für gehobene Ausstattung ist, „nice to have“, sondern eine bindende Verpflichtung aus der Verantwortung für unsere Welt und für kommende Generationen.
Wir wollen wieder mehr gemischte Nutzungen ermöglichen. Sie machen eine Stadt erst lebendig. Die heute so attraktiven europäischen Altstädte dürfte man nach heutiger Gesetzeslage gar nicht mehr bauen. Deshalb wollen wir im Bauplanungsrecht die neue Kategorie des „Urbanen Gebiets“ schaffen. Neben dem Wohnen werden dann auch andere Nutzungen möglich. Die Kommunen erhalten zusätzliche Spielräume für maßvolle Verdichtung und einen zeitgemäßen Mix aus Wohnen und Gewerbe.
Weitere halbe Milliarde Euro
Die Themen bezahlbarer Wohnraum, Demografie, Integration und Klimaschutz gehören zusammen. Und wir werden ihnen nur mit einem breiten und vielschichtigen Maßnahmenspektrum gerecht. Denn wir bauen für lange Zeiträume. Die Bundesregierung hat die Mittel für die soziale Wohnraumförderung in diesem Jahr bereits verdoppelt. Und weil es notwendig ist, gibt es ab 2017 eine weitere halbe Milliarde Euro für den sozialen Wohnungsbau. In diesem Zusammenhang halte ich es auch für erforderlich, dass der Bund wieder eigene Zuständigkeiten im Wohnungsbau bekommt. Außerdem ist es notwendig, den Mietwohnungsbau steuerlich zu fördern. Ich erwarte von der nun beschlossenen degressiven Sonder-Abschreibung einen erheblichen, zielgerichteten Anreiz für den Bau von Mietwohnungen und gerade nicht für Luxusinvestitionen.
Ganz wichtig ist es, die Kostenspirale aufzuhalten. Das Bündnis hat sehr deutlich darauf hingewiesen und dabei nicht mit Kritik an Bund und Ländern gespart: Der Anstieg der Baukosten für Miet- und Eigentumswohnungen muss gebremst werden. Das Bündnis hat viele Fälle aufgezeigt, bei denen sich das gleiche Ziel auf einfachere Weise erreichen lässt, zum Beispiel durch die möglichst einheitliche Übernahme der Musterbauordnung in allen Ländern, durch Typengenehmigungen oder durch mehr serielles Bauen. In diese Richtung zielt unser Förderprogramm für Modellvorhaben zum nachhaltigen Bau von Vario-Wohnungen.
Für diese Vereinfachungen stehe ich als Bauministerin. Bezahlbar bauen heißt aber nicht „Hauptsache billig“. Als Umweltministerin stehe ich genauso dazu, dass es keine Abstriche bei den Klimaschutzzielen und den Effizienzstandards geben wird. Bis Ende 2016 müssen wir den Niedrigstenergie-Standard festlegen, der ab 2019 für Neubauten der öffentlichen Hand und ab 2021 für alle Neubauten gelten wird. Wir wollen in diesem Zusammenhang die Energieeinsparverordnung und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz strukturell neu konzipieren.
Sparpotenziale
Ähnliches gilt für Brandschutz, Energieeffizienz und Barrierefreiheit. Das alles werfen wir nicht über Bord und Schutzziele werden nicht aufgeweicht.
Es gibt allerdings beträchtliches Vereinfachungs- und damit Sparpotenzial. Nehmen wir das Normungswesen: Es ist oft zu umfangreich und praxisfern. Ein Grund ist, dass sich die Praktiker zu selten mit ihrer Expertise an den verschiedenen Normungsprozessen beteiligen. Vor diesem Hintergrund arbeitet mein Ministerium daran, praxisgerechte Standards und niedrigere Kosten zu ermöglichen. Wir werden darüber hinaus mit Bauwirtschaft und Bauherren einen Architekturwettbewerb für serielle Produkte ausloben.
Die Summe aller Wohnungen ist noch nicht die Stadt, in der wir wohnen wollen. Daher müssen wir gleichzeitig massiv in die soziale Stadtentwicklung investieren. In den Quartieren und Kiezen und in der Nachbarschaft, da wo Zusammenleben, Wohnen, Lernen, Arbeiten und Austausch stattfinden, dort entscheidet sich, ob Teilhabe und Chancengerechtigkeit möglich sind und ob Integration gelingt. Der Lebensweg eines Kindes darf sich nicht daran entscheiden, in welchem Stadtteil es groß wird. Der Lebensweg muss sich daran entscheiden, welche Talente und Fähigkeiten ihm mitgegeben sind und ob es seine Chancen nutzen kann.
Unsere Städte sind deshalb nicht einfach Kulissen aus Ziegeln, Holz und Beton. Sie leben vom Miteinander der Menschen, egal wo sie herkommen und wie viel Geld sie haben. Mit handlungsfähigen Kommunen und mit einer gezielten Förderung von Bund und Land arbeiten wir daran, dass unsere Städte diese Aufgaben leisten können. Ein Schwerpunkt ist unser Programm Soziale Stadt. Wir haben es in dieser Legislaturperiode quantitativ und qualitativ deutlich aufgewertet und führen es als Leitprogramm sozialer Integration fort. Außerdem werde ich eine ressortübergreifende Strategie Soziale Stadt vorlegen.
Chancen für alle
Hinter uns liegen Zeiten, in denen der Wohnungsneubau kaum noch ein Thema war. Bezahlbares Wohnen und Bauen sind aber nicht nur für die Wohnungs- und Bauwirtschaft gut, sondern für unsere gesamte Gesellschaft. Deutschland muss ein Land der Chancen sein, für alle Menschen, die hier leben. Die Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik der Bundesregierung trägt ihren Anteil dazu bei.
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[tab title=“Dr. Barbara Hendricks“]
Die 64-Jährige ist seit Dezember 2013 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB).
Davor war sie sieben Jahre Schatzmeisterin der SPD, von 2001 bis 2013 Mitglied im Parteivorstand. Seit 2014 Mitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung. In Kleve geboren trat sie 1972 in die SPD ein. Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Bonn, 1976 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. 1980 Promotion zum Dr. Phil. Über die Stelle als Referentin in der Partei-Pressestelle war sie von 1981 bis 1990 Pressesprecherin des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Bis 1994 war sie Landes-Ministerialrätin im Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft von Nordrhein-Westfalen, zudem Referatsleiterin für grenzüberschreitende Planungen. Seit 1994 Mitglied des Bundestags.[/tab]
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