Kennen Sie die Hölle von Hieronymus Bosch? Die mittelalterliche Bildtafel zeigt alle erdenklichen Qualen, denen die Menschen im christlichen Untergeschoss ausgesetzt sind. Dieses Bild zeichnen Medien, Forscher, Verbraucherschützer und Berufsverbände für die nahe Zukunft, wenn es um die Energiekrise und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen geht. Und das nicht ganz zu Unrecht.
Der Preis für die Kilowattstunde Gas für Haushalte in Mehrfamilienhäusern hat sich nach den jüngsten Zahlen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) innerhalb eines Jahres bereits mehr als verdoppelt. Von 6,83 Cent je Kilowattstunde Erdgas im Vorjahr auf durchschnittlich 13,26 Cent. Und der Anstieg geht rasant weiter. Der Kölner Energieversorgers Rheinenergie hat am Mitte August angekündigt, die Erdgaspreise zum 1. Oktober um mehr als 116 Prozent anzuheben. Man sei gezwungen, die Mehraufwendungen von über 700 Millionen Euro jetzt an die Kunden weiterzugeben, denn die Lage sei „sehr angespannt“. Die Kölner hatten als erstes der großen Stadtwerke ihre Grundversorgungstarife massiv angehoben, viele weitere Versorger folgen. Der Energieexperte Udo Sieverding von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen sieht „eine größere Preiserhöhungswelle“, in deren Zuge „definitiv noch viele Stadtwerke nachziehen“ werden.
Axel Gedaschko, Präsident des GdW, sieht die sozial orientierten Wohnungsunternehmen und ihre Mieter durch die Energiepreisexplosion zunehmend in finanziellen Problemen. Um die Energiepreisexplosionen sozial verantwortlich abzufedern, müsse neben einem befristeten Kündigungsschutzmoratorium eine staatliche Unterstützung finanziell überforderter Haushalte eingerichtet werden.
Auch die Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeichnen ein düsteres Bild. Zum einen gehe es zurzeit darum, überhaupt genug Gas für den Winter zu haben, zum anderen um die Auswirkungen der stark steigenden Gaspreise für den Endverbraucher. Bei einer Verdopplung – einem für die Forscher realistischen Szenario – würde die Inflation in diesem Jahr um einen Punkt und im nächsten Jahr um fast vier Prozentpunkte wachsen. Damit stiege die Inflation (7,5 Prozent im Juli) auf einen deutlich zweistelligen Betrag.
Wenn dieses Szenario eintrifft, könnten dem IW zufolge in diesem Jahr rund 30.000 Menschen ihren Job verlieren, und im kommenden Jahr noch einmal 307.000. Dann würde die deutsche Wirtschaft in diesem und im kommenden Jahr um 70 Milliarden Euro (2 Prozent) schrumpfen. Die Folge: sinkende Einkommen, weniger Konsum, mehr als 3 Prozent weniger Investitionen. Die Auswirkungen von Produktionsausfällen bei einem Stopp der Gaslieferungen sind in den Berechnungen noch gar nicht berücksichtigt.
Wie also soll nun dem Horrorszenario begegnet werden? Zurzeit schreit jede Lobbygruppe nach dem Staat. Und so zieht Christian Lindner mit dem Füllhorn übers Land und beglückt das Volk mit Tankrabatt, 9- Euro-Ticket, Kinderbonus, Hartz-4-Zu-schuss und Energiepreispauschale. Aber wie sinnvoll ist dieses Klein-Klein, bei dem Vieles zwar an- aber nichts zu Ende gedacht ist? Letztlich sind diese Maßnahmen nur Tropfen auf den heißen Stein. Ein großer Wurf wird schmerzlich vermisst.
Zum Beispiel die Energiepreispauschale: Von den einmalig 300 Euro profitieren Erwerbstätige der Steuerklassen 1 bis 5, Minijobber, Gewerbetreibende und Selbständige. Rentner und Studenten dagegen gehen leer aus, obwohl sie von den Preissteigerungen deutlich härter betroffen sind als die meisten anderen Bevölkerungsgruppen. Fast ein Viertel der Bevölkerung im Alter von 80 Jahren und älter verfügt über ein Monatseinkommen von weniger als 1168 Euro (BMFSFJ, 12/2021). Studenten liegen mit durchschnittlich 1060 Euro (Destatis, 2020) noch darunter. Dass Rentner und Studenten genauso wie alle anderen Gering- und Niedrigverdiener von einer Verdopplung oder Verdreifachung der Energiepreise überm..ig hart betroffen sind, dürfte jedem klar sein.
Es geht um unsere Gesellschaft
Immer mehr Menschen können sich steigende Mieten und Betriebskosten in den Städten nicht mehr leisten. Wer in den Kommunen nachfragt, erfährt, dass es immer mehr Wiedereinweisungen von zwangsgeräumten säumigen Mietern gibt, weil keine freien Sozialwohnungen zur Verfügung stehen. Ein deutliches Zeichen für die zunehmende Schlagseite unserer Gesellschaft.
Diese Energiekrise hat große gesellschaftliche Sprengkraft. Die Mittelschicht – diese Entwicklung ist schon länger zu beobachten – löst sich immer mehr auf. Damit geht die Schere zwischen Arm und Reich zunehmend aus einander. Verlierer dabei sind vor allem Soloselbständige und Alleinerziehende. Sie tragen das größte Armutsrisiko im Land. Seit Gründung der Bundesrepublik bestand der gesellschaftliche Kitt in Deutschland aus Bildung für alle, guten Aufstiegschancen und auskömmlichen Einkommen. Diese Phase ist nun vorbei. Die Zahl der Bedürftigen nimmt zu und die der Leistungsfähigen ab. Diese Entwicklung wird von Corona- Pandemie und Energiekrise beschleunigt, denn die „alten“ Herausforderungen sind noch immer nicht bewältigt: Digitale Transformation, strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, Fachkräftemangel und die Qualifizierung von Arbeitnehmern.
Die Liste der Probleme ist nicht kürzer geworden, sondern länger. Um dem zu begegnen, muss die Politik viel Geld ausgeben für digitale Transformation, Qualifizierung, Erneuerbare Energien, Infrastruktur und das Abfedern sozialer Härten. Die benötigten Milliarden können letztlich nur von denen kommen, die sie erwirtschaften: den Besserverdienenden und den gewinnorientierten Unternehmen. Deshalb wird jeder seriös arbeitenden Regierung unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung mittelfristig nichts anderes übrigbleiben, als die gut Verdienenden höher zu besteuern. Anders lassen sich die nötigen Maßnahmen nicht finanzieren.
Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Regierung aus ihrem Klein-Klein aussteigt und eine grundlegende Reform unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens in Angriff nimmt.