Die bauliche und energetische Modernisierung und Sanierung eines kompletten Wohnquartiers ist für Unternehmen der Wohnungswirtschaft eine große Herausforderung. Manche halten sich aus finanziellen Gründen zurück, andere schreckt die Komplexität dieser Aufgabe. Nicht so die Berliner Wohnungsgenossenschaft Märkische Scholle. Seit Frühjahr 2014 betreibt sie die sozialverträgliche Modernisierung ihres derzeit größten Wohngebietes Gartenstadt Lichterfelde Süd, das kurz vor der Stadt- beziehungsweise Landesgrenze zu Brandenburg gelegen ist. Die Genossenschaft betreibt damit die Energiewende vor Ort.
Der Zahn der Zeit habe sicht- und spürbar an den Gebäuden des Quartiers genagt, räumt Jochen lcken, technisches Vorstandsmitglied der Märkischen Scholle, ein. „Wesentliche Probleme sind neben schlecht ablaufenden Abflüssen und zugigen Fenstern feuchte Keller und insgesamt überdurchschnittlich hohe Kosten für Heizung und Warmwasser. Im Quartier belastet das die Mieter mit durchschnittlich 1,50 Euro pro Quadratmeter.“ Auch der regelmäßige Aufwand für Wartung und Instandsetzung sei inzwischen viel zu hoch. Die Häuser seien Energiefresser, sowohl für die Mieter als auch für die Genossenschaft.
Neuer Wohnraum ohne Flächenversiegelung
Betroffen sind insgesamt 841 Wohnungen aus den 30er- und 60er-Jahren. Da einige der Gebäude sich als nicht sanierbar erwiesen, werden sie abgerissen. „Wir sorgen jedoch für Ersatz“, beruhigt Icken. Neben zwei Nachverdichtungsbauten, deren Baubeginn in 2015 ansteht, stockt die Genossenschaft die 30er-Jahre-Bauten mit Dachgeschossen auf. Die 60 Wohnungen, die zusätzlich entstehen, sind vor allem für Familien mit Kindern gedacht – mit größeren Wohnungszuschnitten, die in der von vorwiegend kleinen Wohnungen geprägten Gartenstadt bislang fehlten. Am Ende des mehrjährigen Sanierungs- und Modernisierungsprozesses werden 901 Wohneinheiten zur Verfügung stehen. Die Investitionskosten sind auf insgesamt 70 Millionen Euro veranschlagt.
Die im Jahr 1919 gegründete Märkische Scholle, die in den West-Bezirken Berlins mehr als 3500 Wohnungen bewirtschaftet, verfügt über jahrelange Erfahrung im Umgang mit erneuerbaren Energien, vor allem mit Solarwärme. Da Energieeffizienz und Umweltschutz also ganz oben auf ihrer Prioritätenliste stehen, zog sie das Berliner Ingenieurbüro E-Zeit Ingenieure GmbH hinzu. Mit deren Architekten und Planern wurde ein ganzheitliches Energie- und Umsetzungskonzept für die Modernisierung der Gartenstadt Lichterfelde Süd erarbeitet.
Oberste Priorität: Energieeffizienz und Umweltschutz
Taco Holthuizen, Geschäftsführer von E-Zeit Ingenieure, erläutert die wichtigsten Punkte folgendermaßen: „Die Fassadendämmung, insbesondere der 30er-Jahre-Bauten, macht dabei nur einen kleinen Teil der Maßnahmen aus. Vielmehr stellen wir in Lichterfelde Süd auf Eigenenergieerzeugung um. Die Energie für die Gebäude stammt zukünftig primär aus Solaranlagen, Wärmepumpen und aus der Wärmerückgewinnung der Abluft, zum Beispiel aus Duschen, aus Abwärme von Geräten, Bewohnern und Beleuchtung, aber auch aus passiver Sonneneinstrahlung, die den Wohnraum durch die Fenster und das Gemäuer erwärmt.“
Ein von den E-Zeit-Ingenieuren entwickelter saisonaler Erdwärmespeicher, der E-Tank, der als thermische Quelle für die Wärmepumpe genutzt wird, sowie ein dynamischer Energiemanager stellen den innovativen Mittelpunkt des rein regenerativen Energiesystems dar. Es bietet ein so großes Einsparpotenzial, dass man sich von der Fernwärme des Energieversorgers Vattenfall vollständig habe verabschieden können. „Automatisch vom Energiemanager gesteuert, wird Energie, wenn sie nicht umgehend benötigt wird, im Boden, also im E-Tank neben dem Haus, zwischengespeichert und von dort bei Bedarf wieder als Wärme in die Gebäude zurückgeleitet“, erläutert Holthuizen.
Danach soll der Primärenergiebedarf für Heizung und Warmwasser für die ersten vier Gebäude, deren Modernisierung inzwischen abgeschlossen ist, von 169 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr (laut Vattenfall angeblich mit Primärenergiefaktor 0,56) auf 29 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr gesenkt und der Stand eines Niedrigenergiehauses erreicht werden.
In dieser Rechnung ist der Fotovoltaik-Strom nicht berücksichtigt. Denn auf den nach Südwesten ausgerichteten Dächern befinden sich nicht nur jeweils 40 beziehungsweise 50 Quadratmeter Kollektorfläche, sondern zusätzliche Fotovoltaikanlagen. 88 Quadratmeter auf den Gebäuden 2 und 3 sollen rund 13.300 Kilowattstunden Strom pro Jahr erzeugen. Bei den 105 Quadratmetern auf den Gebäuden 1 und 4 wird mit 16.000 Kilowattstunden Strom pro Jahr gerechnet. Mit dieser Ausstattung werden bilanziell bei den vier Gebäuden mehr als 248 Tonnen CO2 pro Jahr eingespart. Eine Eigenstromnutzung findet vorerst nicht statt, es wird nach dem Erneuerbaren-Energie-Gesetz ins Netz eingespeist und vergütet.
Eigenenergieerzeugung der Wärme
Bei den vier E-Tanks handelt es sich um nach unten offene Erdspeicher, die auf Basis der offenen oszillierenden Pufferspeicher-Technik (00PS-Technik) arbeiten. Ihre Größe beträgt jeweils 400 Kubikmeter. Sie liegen 80 Zentimeter unter der Erdoberfläche und können Überschüsse aus den solarthermischen Anlagen aufnehmen. Dies erhöht die Quelltemperatur und verbessert die Wirtschaftlichkeit der Wärmepumpen.
Bei der Frage, wie stark die Jahresarbeitszahl der Wärmepumpen verbessert werden kann, sind die E-Zeit Ingenieure noch zurückhaltend, sprechen aber von einer Größenordnung, die über fünf liegen soll. Auch für die solarthermischen Anlagen ergibt dieses Konzept Vorteile, so Holthuizen, denn bei der Einspeisung von Solarwärme können auch niedrige Temperaturen aus den Kollektoren noch genutzt werden.
Der größere Solarertrag, der so aus der Nutzung der Niedertemperatursolarthermie bis hinunter zu 30 Grad Celcius zustande kommt, sei ein weiterer Vorteil. Die Grundlage einer hohen Anlageneffizienz mit einer niedrigen Anlagenaufwandszahl ep von unter 0,3, so Holthuizen weiter, resultiert aus der Fähigkeit, thermische Energie aus Abluft, Sonne und Erdreich maximal ins Heizsystem zu integrieren und Überschüsse über einen längeren Zeitraum zu puffern beziehungsweise bedingt saisonal zu speichern, damit sie je nach Nutzeranforderung immer sicher bereitstehen.
Dynamischer Energiemanager im Einsatz
Dass die rein regenerative Wärmeversorgung reibungslos funktioniert, garantiert der dynamische Energiemanager (DEM) der Firma Parabel Energiesysteme aus Potsdam. Er ist ein vorinstalliertes, hydraulisch abgestimmtes System mit einer intelligenten Steuerungseinheit sowie den entsprechenden Speichersystemen und Wärmetauschern. Er verfügt über zahlreiche Messeinrichtungen, mit denen Heizwärme- und Warmwasserverbrauch, der thermische Solareintrag, der geothermische Energiegewinn, der Energiegewinn über die Abluftwärmepumpe sowie der Ertrag aus den Solarkollektoren in Echtzeit gemessen und ausgewertet werden.
Die Zielsetzung des DEM besteht im grundsätzlichen Vorrang der Eigenenergienutzung vor der Speicherung, das heißt es ist Sonnenenergie vorhanden, wird sie prioritär vor der Erwärme eingesetzt. Die Warmwassererzeugung findet in den Gebäuden nicht mehr zentral, sondern dezentral mit sogenannten Wohnungsstationen statt. Auch das ein Detail, das zur Energieeffizienz, vor allem in Form der Entlastung der Wärmepumpen, beiträgt. Mit seiner Ausrichtung kann das System hinsichtlich Gleichzeitigkeitsfaktoren und Nutzerverhalten im laufenden Betrieb angepasst und optimiert werden. Zudem kann per Ferndiagnose direkt in die Anlagentechnik eingegriffen werden.
Nahezu warmmietenneutral
Der Vorteil dieses Energie- beziehungsweise Wärmekonzepts für die Mieter liegt auf der Hand. Der Großteil ihrer Energiekosten wird in Zukunft wegfallen. Durch die fast vollständige Unabhängigkeit von fossilen Wärmelieferungen sind die Genossenschaftsmitglieder zudem kaum noch von steigenden Energiepreisen betroffen. Vielmehr wird die neue Warmmiete der bisherigen Warmmiete nahezu entsprechen. Bisher zahlten die Mieter in der Gartenstadt Lichterfelde Süd 7,94 Euro Warmmiete pro Quadratmeter, erläutert Icken.
Bei einer 32-Quadratmeter-Einzimmerwohnung, einer für das Quartier durchaus typischen Einheit, mache das 254,08 Euro. Nach der Sanierung könnte die Miete, rechtlich zulässig, per Modernisierungsumlage auf 12,92 Euro je Quadratmeter angehoben werden. Die Wohnung würde dann 413 Euro kosten. Das will die Genossenschaft nicht und muss es auf Basis des Energie- und Sanierungskonzepts auch nicht.
Deshalb legte sie die Warmmiete auf 8,25 Euro je Quadratmeter fest; die sanierte Wohnung im genannten Beispiel kostet damit 264 Euro, gerade 10 Euro mehr als zuvor. Wie das möglich ist, sagt Vorstand Icken: „Das autarke regenerative Energiekonzept in den Gebäuden ermöglicht uns, rund 1,50 Euro pro Quadratmeter allein bei der Energie einzusparen“. Das führe nahe an die Warmmietenneutralität. Es gebe zwar nach wie vor eine Heizkostenrechnung, die aber nur noch den Strom für Wärmepumpe umfasse, der fremdbezogen werde.
Als Wermutstropfen empfinden Icken wie Holthuizen die Tatsache, dass bei der Wärmedämmung eine Fassadendämmstärke von 16 Zentimetern aufgebracht werden musste. Nach den Berechnungen der E-Zeit-Ingenieure hätten bei dem geringen Primärenergiebedarf bereits 12 Zentimeter ausgereicht. Obwohl die Gebäude das Niveau eines Niedrigenergiehauses besitzen, konnte nur eine Förderung nach KfW 85 beantragt werden. Nicht einmal die Anforderungen an ein KfW-70- beziehungsweise KfW-55-Effizienzhaus wären damit erreicht worden, da die KfW hierfür eine höhere Dämmstärke fordert. Als Konsequenz fällt damit die staatliche Förderung geringer aus, was letztlich zu Lasten der Mieterschaft gehe, so Icken.
Bewohner von vornherein involviert
Da die umfangreichen Sanierungsmaßnahmen mit erheblichen Belastungen für alle betroffenen Mieter verbunden sind, entwickelte die Genossenschaft zusätzlich ein Kommunikationskonzept. Sie lud ihre Mitglieder bereits weit im Vorfeld der Baumaßnahmen, im Februar 2013, zu einer ersten Informationsveranstaltung ein und gab regelmäßig Sanierungsrundbriefe heraus.
Margit Piatyszek-Lössl, kaufmännisches Vorstandsmitglied der Genossenschaft, sagt dazu: „Es war uns wichtig, unsere Lichterfelder Mieter bereits frühzeitig über Art und Umfang der Maßnahmen zu informieren, denn ein Teil der Sanierungsbetroffenen muss für bis zu sieben Monate die Wohnungen verlassen.“ Dies wurde dann mit einem Sanierungsbeirat und über ein Umzugsmanagement und Ersatzwohnraum während der Bauzeiten umgesetzt. Als nächstes will der Genossenschaftsvorstand eine Mieterfibel zum Niedrigenergiehaus herausgeben, die die Veränderungen gegenüber dem alten Zustand verdeutlichen soll. Außer Erklärungen zur neuen Haustechnik wird zum Beispiel auch das veränderte Lüftungsverhalten aufgegriffen.
Auch wenn die Bauarbeiten noch über Jahre andauern werden, stimmt das die Genossenschaft und ihre Mitglieder positiv. Piatyszek-Lössl sagt weiter: „Für uns steht das Thema Energiewende im Bestand nicht nur auf dem Papier. Wir sind sicher, dass es gelingen wird, das Quartier zu einer Gartenstadt für alle Generationen zu entwickeln – und das nachhaltig sowohl hinsichtlich der Energiefrage als auch unter dem Aspekt stabiler Mieten.“
Klaus Oberzig