Hochspannungstrasse? Ja, aber nicht bei mir! Neue Bahnstrecke? Ja, aber nicht bei mir! Werke, Windräder, PV-Felder, Brücken, Gewerbebetriebe, Großprojekte? Ja, aber nicht bei mir! Die Republik scheint gelähmt von betroffenen Bürgern, Initiativen, selbsternannten Naturschützern und verbrämten Kapitalismuskritikern. Mir geht dieses ganze egozentrische Betroffenheitsgerede mächtig auf den Senkel!
Aber zurück auf Anfang, warum habe ich mich hier so in Rage geschrieben und worum geht es eigentlich? Vor einigen Tagen fiel mir eine Pressemitteilung in die Hände, in der ein „Verbändebündnis“ fordert, man solle bei der Verlegung der Stromtrassen von Nord- nach Süddeutschland am Erdkabel festhalten. Und es sollte niemanden überraschen, dass die Mitglieder der warnenden Verbände handelnde Akteure im Erdkabel-Business sind. Eines der angeführten Argumente war, dass die Kehrtwende zum Freileitungsbau Bürgerproteste riskiere und es dadurch zu weiteren Verzögerungen beim Netzausbau kommen würde.
Grund für die warnende Pressemitteilung ist das Umschwenken der Bayerischen Staatsregierung. Der Freistaat hatte zunächst Erdkabel favorisiert, setzt nun aber verstärkt auf Freileitungen, denn der Bau müsse künftig schneller und günstiger werden. Um das zu erreichen, soll für künftige Stromtrassen gelten: „Überirdisch, wo möglich, unterirdisch, wo nötig.“ Dabei geht es um die sogenannten Stromautobahnen, Gleichstromtrassen, die das Rückgrat der künftig erneuerbaren Stromversorgung Deutschlands bilden sollen.
Vier bis achtmal so hohe Kosten für Erdkabel
Der Netzbetreiber Tennet geht davon aus, dass Erdkabel vier- bis achtmal mehr kosten als Freileitungen. Diese Erfahrung haben man bei bisherigen Bau- und Planungserfahrungen gemacht. Je schwieriger das Terrain sei, desto höher die Mehrkosten durch die Verlegung unter der Erde. Dadurch erkläre sich die große Bandbreite in den angegebenen Kosten. Im gebirgigeren, südlichen Teil Deutschlands sei der Bau und die Logistik deutlich aufwendiger als in der Norddeutschen Tiefebene. Besonders schwierig und teuer seien auch unterirdische Querungen großer Flüsse, etwa an der Elbe. Ähnliches gelte auch für Autobahnen und Eisenbahnstrecken.
Die zuständigen Netzbetreiber gehen davon aus, dass sich bei einem Umschwenken von Erdkabel auf Hochspannungsleitungen bei den noch nicht begonnenen Gleichstromprojekten „bis zu 20 Milliarden Euro“ einsparen ließen. Die Bundesnetzagentur geht von etwa 16,5 Milliarden Euro aus, die sich einsparen ließen, wenn die Trassen als Freileitung ausgeführt werden. Hinter vorgehaltener Hand hört man bei den Netzbetreibern immer wieder die Angst vor Verzögerungen durch Bürgerinitiativen und klagen.
Gefürchteter Furor teutonicus
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ich habe keine fundierte Meinung darüber, was nun im Einzelfall besser ist: Erdkabel oder Freileitung. Mein Punkt ist, dass Bund, Länder und letztlich jeder, der in diesem Land
noch etwas bewegen möchte, den Furor teutonicus fürchtet, der jedes größere Bau- oder Infrastrukturprojekt enorm verzögert, verteuert oder verhindert. Und häufig geht es schlicht und ergreifend um Nimby. Das englische Akronym steht für „not in my backyard“, „nicht in meinem Hinterhof“. Sankt Florian lässt also grüßen, der das eigene Haus verschonen und stattdessen doch lieber das des Nachbarn anzünden soll.
Natürlich wollen die meisten in Deutschland die Klima-, Verkehrs- und Energiewende. Gleichzeitig aber werden wichtige Projekte fast überall erbittert bekämpft. Und dafür müssen nicht selten alle möglichen Tiere herhalten. Mauereidechsen, Juchtenkäfer, die Kleine Hufeisennase und der Schierlingswasserfenchel haben eines gemeinsam: Sie alle haben schon große Bauprojekte verzögert.
In Brandenburg sorgte ein gerichtlich verhängter Rodungsstopp für Verzögerungen beim Bau der Teslafabrik, in Dresden stoppte die Fledermausart Kleine Hufeisennase zeitweise den Bau der Waldschlösschenbrücke, der Elbvertiefung in Hamburg stand die Umsiedelung des seltenen Schierlingswasserfenchels im Weg, und für den Bau des Fehmarnbelt-Tunnels unter der Ostsee mussten zunächst Molche und Frösche eine neue Heimat finden. Der Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 wiederum verzögerte sich um Jahre wegen der Rettung des Juchtenkäfers und einiger tausend Mauereidechsen.
Tausende Bürgerinitiativen gegen fast jedes Großprojekt
Im nicht gerade strukturstarken Nürnberg will die Deutsche Bahn 400 Millionen Euro in ein weiteres Instandhaltungswerk für ICE-Züge investieren. 450 neue Stellen sollen in der Frankenmetropole entstehen, wo die Arbeitslosigkeit etwa doppelt so hoch ist wie im bayerischen Durchschnitt. Doch an allen neun möglichen Standorten in und um Nürnberg tobt der Widerstand, Bürgerinitiativen formieren sich gegen das Projekt. Das Argument ist immer das gleiche: An sich sei das eine gute Sache, aber dieser Standort ist nicht geeignet. Man solle es doch lieber woanders probieren. Die Liste der Großprojekte, gegen die sich Protest regt, ist lang: der Bahnhof Stuttgart 21, zusätzliche Start- und Landebahnen an Flughäfen oder neue Schnellstraßen wie die A 49 durch den Dannenröder Forst in Hessen, Windräder und Stromtrassen, Bahngleise, Mobilfunkmasten, Ferienparks und Wohnquartiere.
Experten schätzen allein die Zahl der Bürgerinitiativen gegen Windräder bundesweit auf mehr als tausend. War solcher Widerstand vor wenigen Jahren noch vorwiegend Sache von linken und ökologisch motivierten Gruppen, sind es heute immer mehr Gutsituierte, die als Wutbürger auf die Straße gehen.
Nahezu jedes Großprojekt wird zur Hängepartie
Verkehrswende ja, ICE-Werk meinetwegen, aber doch bitte nicht vor meiner Haustür. Aber woher sollen künftig Arbeitsplätze und Wohlstand kommen, wenn Investitionen und Arbeitsplätze massenhaft verhindert werden? Wie will die Republik eine Klima-, eine Energie- und eine Verkehrswende hinbekommen und obendrein digitaler werden, wenn gleichzeitig der Ausbau der Bahn, den Umbau der Energieversorgung und nahezu jeder einzelne Sendemast angefeindet wird?
Der Investitionsstau beginnt hoch im Norden, wo in Schleswig-Holstein 12.600 Einwendungen gegen den Fehmarnbelt-Tunnel erhoben wurden. Die 18 Kilometer lange Röhre mit vier Autobahnspuren und zwei Bahngleisen soll ab 2029 die deutsche Insel Fehmarn unter der Ostsee hindurch mit Dänemark verbinden. Das Fahren auf der Schiene würde so attraktiver; eine Zugfahrt zwischen Kopenhagen und Berlin würde sich um zwei Stunden verkürzen. In Dänemark wird das auf elf Milliarden Euro taxierte Projekt als großer Wurf gefeiert, in Deutschland wird es bekämpft. Umweltschützer sorgen sich um die Zukunft der Haselmaus und geschützter Riffe, andere sind Gegner wegen der hohen Kosten.
Genehmigungsverfahren heute doppelt so lang wie 2010
Deutschland steckt im Modernisierungsstau. Vielerorts klaffen Funklöcher, doch Zehntausende Menschen unterzeichnen Online-Petitionen gegen den Mobilfunkausbau. Auch der bereits erwähnte Ausbau der Stromtrassen, die in und an Nord- und Ostsee erzeugte Windenergie in den Süden Deutschlands transportieren sollen, stockt. Als vor einigen Jahren der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer angesichts massiver Proteste den Betreibern abrang, weite Teile der Leitungen unterirdisch zu verlegen, erntete er neuen Widerstand. Da werde der Boden zu warm, hieß es.
Laut Industrieverband BDI hat sich die Verfahrensdauer in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Bis ein Mobilfunkmast in Deutschland genehmigt wird, dauert es im Schnitt 18 Monate, im Ausland liegt der Wert bei nur vier bis sechs Monaten. So werden für die Allgemeinheit wichtige Investitionen teils über zehn oder 20 Jahre verzögert.
Offenbar sind wir in Deutschland satt und mit uns selbst zufrieden. Dabei fällt unser Land immer weiter hinter anderen zurück, weil nötige Infrastrukturprojekte nicht mehr umgesetzt werden können. Die Besitzenden echauffieren sich über Bauprojekte, weil sie Beeinträchtigungen des eigenen Wohlbefindens befürchten. So sterben oder verzögern sich Projekte, die der Gesellschaft zugutekommen könnten. Das ist sehr egozentrisch, selbstverliebt und am Ende asozial! Ein echtes Nimby eben, das die junge Generation am Ende ausbaden muss.
Wir brauchen weniger Nimby und mehr Yimby (Yes, in my backyard!). Wenn wir irgendwann aus unserer behäbigen Wohlfühlblase herauskommen, müssen wir uns endlich wieder fragen, was die Gesellschaft braucht. Ich für meinen Teil habe erstmal die Nase voll von Bürgerinitiativen!
Jörg Bleyhl