Die Baby Boomer-Generation geht nach und nach in Rente. Und das mit gravierenden Folgen. Nach Ansicht von Martin Müller von KFW Research bröckelt damit das Fundament für weiteres Wohlstandswachstum in Deutschland. Das Fehlen von Fachkräften behindere bereits heute die Geschäftstätigkeit jedes zweiten Unternehmens. Das liege maßgeblich mit am schwachen Produktivitätswachstum: Die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem erhöhte sich seit dem Jahr 2012 um magere 0,3 Prozent pro Jahr. Bleibe das Produktivitätswachstum derart schwach und verstärke sich gleichzeitig die rückläufige Zahl inländischer Fachkräfte, bedeute dies eine Zeitenwende: Deutschland träte noch in diesem Jahrzehnt in eine Ära anhaltend stagnierenden, womöglich schleichend schrumpfenden, Wohlstands ein.
Und die Prognosen für eine Trendumkehr sind nicht rosig: Dem Statistischen Bundesamt Destatis zufolge wird die Zahl der Menschen im Erwerbsalter in den kommenden Jahren weiter abnehmen. Selbst bei hoher Nettozuwanderung – also einem hohen positiven Saldo aus Zu- und Fortzügen würde es bis Mitte der 2030er Jahre zu einer Abnahme um 1,6 Millionen Menschen im erwerbstätigen Alter kommen. Bei niedriger Nettozuwanderung könnte ihre Zahl sogar um 4,8 Millionen sinken. Die Auswirkungen sind nicht nur für Rentner enorm, die nun um die Früchte ihrer Arbeit fürchten.
Nach der Studie von KFW Research tragen aktuell ausländische Erwerbstätige zu etwa 60 Prozent zum Beschäftigungsaufbau in Deutschland bei. Um den Rückgang des inländischen Angebots an Erwerbspersonen komplett durch Zuwanderer auszugleichen, müssten pro Jahr per Saldo 1 Million Menschen im Erwerbsalter von 15 bis 64 Jahren nach Deutschland einwandern. Der Zuwanderungssaldo in dieser Altersgruppe müsste dann bis zur Mitte des Jahrzehnts auf 1,3 Millionen steigen. Und das gilt auch nur, wenn man gleiche Qualifikationen unterstellt. Berücksichtigt man zusätzlich, dass ausländische Beschäftigte in Deutschland mangels Deutschkenntnissen und anerkannten Berufsabschlüssen weit häufiger Hilfstätigkeiten verrichten als Einheimische, müsste der Zuwanderungssaldo in der Altersgruppe auf 1,8 Millionen steigen. Eine andauernde Nettozuwanderung in dieser Größenordnung erscheint schon allein aus gesellschaftspolitischen Gründen unrealistisch. Umso wichtiger wäre es den Studienmachern zufolge, die Bedingungen für eine weitere Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Inländern, insbesondere von Frauen, aber auch für eine weitere Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu verbessern.
Diese Entwicklung wird dramatische Auswirkungen auch auf die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft haben. Das Fatale an der Situation: Selbst wenn man den Mangel an Fachkräften im eigenen Unternehmen durch attraktive Arbeitsbedingungen und ein hohes Maß an Prozessautomation kompensieren kann, wird die Verfügbarkeit von Handwerkern und Dienstleistern immer öfter zum Problem. Was nützen das beste Schadensmanagement und die beste Kundenkommunikation, wenn am Ende niemand kommt, um den Schaden zu beheben?
Was Deutschland bräuchte: Eine höhere Beschäftigungsquote im Inland. Das heißt längere Arbeitszeiten, mehr Frauen in Vollzeit, längere Lebensarbeitszeit. Kurz gesagt alles, womit man die aktuell erwerbstätigen Generationen abschreckt. Wie immer, wenn Angebot und Nachfrage weit auseinander liegen, verändert sich der Preis. In diesem Fall reagieren die um Fachkräfte konkurrierenden Unternehmen mit immer attraktiveren Angeboten, die die Arbeitnehmer ködern und halten sollen: 4-Tage-Woche, möglichst bei vollem Lohnausgleich, hohes Gehalt bei wenig Verantwortung, flexible Arbeitszeiten, Lebensarbeitszeitkonten, Mobile Working, geldwerte Vorteile, Dienstwagen, Job-Rad und jede Menge Incentives mehr.
Klar ist, dass etwas passieren muss, wenn wir wirtschaftlich vom absteigenden Ast herunterkommen wollen. Aber mit einer Maßnahme allein ist es nicht getan. Wir brauchen zum einen mehr Verantwortlichkeit und Gestaltungswillen bei den Arbeitnehmern. Wahrscheinlich ist das in Zeiten zunehmender Individualisierung gesellschaftlich die schwierigste Aufgabe. Etwas leichter sollte uns der nächste Punkt fallen. Schließlich ist Deutschland wirtschaftlich doch seit jeher das Land, das für Effizienz und Effektivität steht. Wer wenig von einer Ressource hat, muss sie so zweckdienlich und ressourcenschonend wie möglich einsetzen. Die Ressource heißt Arbeitskraft und die Hebel für Effizienz und Effektivität heißen Digitalisierung und Automatisierung.
Was wir vor allem brauchen, ist eine geregelte Zuwanderung von Fachkräften. Die Regierung hat kürzlich eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts verabschiedet. Bereits Ende 2021 hatte die Ampelkoalition das Vorhaben im Koalitionsvertrag vereinbart. Das Gesetz bietet Fachkräften aus dem Ausland eine Möglichkeit zur Einbürgerung. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, dass ausländische Ingenieure und IT-Fachleute durchaus Interesse an einer Beschäftigung in Deutschland haben. Allerdings kommen nur wenige kurzfristig hierher, und diejenigen, die einwandern, fühlen sich oft nicht willkommen. Und genau das ist der springende Punkt. Eine Willkommenskultur ist nicht dem Altruismus eines sehr abfällig konnotierten Gutmenschentums geschuldet. Sie ist abgesehen von humanistischen Aspekten schlicht eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Dass diese Einsicht noch nicht wirklich durchgedrungen ist, sieht man am Höhenflug der AFD, die mit altbekannten Parolen Stimmung gegen Zuwanderer macht.
Die OECD-Studie zeigt, dass statt einer Willkommenskultur oft bestenfalls Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung herrscht. Befragt wurden im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums Fachkräfte aus dem Ausland, die sich für Deutschland interessieren und aus beruflichen Gründen in die Bundesrepublik kommen wollen oder seit August 2022 eingewandert sind. Von den fast 29.000 Personen, die im Herbst 2022 einen Fragebogen ausfüllten, haben nur etwa 5400 geantwortet. Und nur fünf Prozent von ihnen sind mittlerweile tatsächlich nach Deutschland gezogen. Dies ist eine erschreckend niedrige Quote.
Immerhin: Von den bereits Zugewanderten zeigte sich mehr als die Hälfte bei der Befragung mit ihrem Leben in Deutschland ziemlich oder sehr zufrieden, vor allem mit der Lebensqualität, der Kinderbetreuung und dem Arbeitsplatz. Weitere Ergebnisse der Studie legen jedoch nahe, dass es in Bezug auf die Willkommenskultur noch viel zu tun gibt.
Die Befragten sind genau die Zuwanderer, die sich ein Einwanderungsland wünscht: 75 Prozent von ihnen haben einen Hochschulabschluss, ein Drittel davon besitzt einen Master- oder Doktortitel. 60 Prozent haben bereits begonnen, Deutsch zu lernen, und jeder Dritte davon verfügt über fortgeschrittene Kenntnisse. In der Gruppe derer, die bereits nach Deutschland gezogen sind, arbeiten viele Ingenieurinnen und IT-Fachkräfte, was sie besonders gefragt macht.
Aber: Mehr als die Hälfte von ihnen hat sich bei der Wohnungssuche schon einmal diskriminiert gefühlt. Jeweils mehr als ein Drittel gibt an, in Geschäften und Restaurants sowie auf der Straße aufgrund ihrer Herkunft schlechter behandelt worden zu sein. Diese Erfahrungen sprechen sich per Social Media schnell herum.
Die Befragung zeigt, dass unsere Gesellschaft offener werden muss. Dazu gehören nicht nur die Einstellungen von Vermietern, Kolleginnen und Kollegen sowie Servicepersonal, sondern auch von Arbeitgebern und staatlichen Stellen. 40 Prozent der Zugewanderten sind ziemlich oder sehr unzufrieden mit ihrem Kontakt zur Ausländerbehörde. Experten bewerten die Situation im deutschen Zuwanderungsmanagement im internationalen Vergleich oft als peinlich, besonders die Schwierigkeiten, Termine an deutschen Auslandsvertretungen zu bekommen, und die schlechte Erreichbarkeit der Ausländerbehörden im Inland. Gutmenschentum ist also keine ideologisch verbrämte Träumerei, sondern schlicht eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
Oliver Mertens